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Harald Schaal fährt jeden Tag mit dem Fahrrad von Niegripp nach Wolmirstedt zur Arbeit Bis zur Rente noch 63 000 Kilometer

Von Bernd Körner 13.02.2014, 01:23

Fast 50 Kilometer Arbeitsweg muss Harald Schaal täglich bewältigen. So geht es vielen. Doch der Niegripper bringt die Strecke zu jeder Jahreszeit mit dem Fahrrad hinter sich.

Niegripp l Ein alltäglicher Ritt: Das Fahrrad wird aus dem Stall, der Garage oder dem Keller geschoben oder gehievt - und ab geht es im Sattel zur Arbeit. Abends in umgekehrter Richtung zurück. Man traut sich die gewohnte körperliche Aktivität, außer es ist grimmiger Winter mit Schnee und Eis oder Sommer mit Regengüssen. Dann wird der Drahtesel besser im Stall gelassen. Man versucht per pedes, mit dem vergötterten Auto oder mit dem Nahverkehr, seinen Jobplatz zu erreichen ...

Nun stelle man sich vor, man wohne in Niegripp und der Beschäftigungsbetrieb hat seinen Standort am Rande von Wolmirstedt. Gegenüber vom Jerichower Land, über die Elbe hinweg im Bördelandkreis. Ausnahmslos egal, was die TV-Meteorologen am Abend vorher verkünden, am sehr frühen Morgen wird in die Pedale getreten, um das Betriebsgelände eines der Wolmirstedter Umspannwerke anzusteuern. Arbeitstag für Arbeitstag, unabhängig, aus welcher Himmelsrichtung Schnee stiebt oder Stürme plagen. Vom Januar bis Dezember stehen damit mehr als 20 Kilometer hin und die gleiche Distanz zurück auf dem täglichen Fitnessprogramm. In der Summe rund 50 Kilometer den Körper stählendes Fahrradfahren.

Manche tippen sich an die Stirn

Harald Schaal heißt der beeindruckende Intensivradler, wohnhaft seit Geburt in Niegripp und dort dem einen oder anderen Ortsbewohner vermutlich bekannt. "Ich weiß, einige meiner Kollegen in Wolmirstedt tippen sich heimlich an die Stirn und bestimmt auch Niegripper wegen meiner Fahrradleidenschaft", ist er überzeugt. Die hatte vor zwei Jahrzehnten begonnen.

Der Fahrradjünger erzählt: "Ich habe in dem Wolmirstedter Umspannwerk als Lehrling mein Berufsleben begonnen. Damals war es bis kurz nach der Wende kein Problem, von meinem Heimatort in den damaligen Ohrekreis zu kommen. Mit Bus und Bahn über Magdeburg gelang die Arbeitsfahrt prima. Dann kam die Wende. Es wurde in der Infrastruktur gespart und gespart, wie jeder weiß. Die Bus-Bahn-Anfahrt in den Nachbarkreis wurde für mich unmöglich, da zeitraubend und kostspielig. Also entschloss ich mich, Mitte der 90er Jahre auf das Fahrrad umzusatteln."

Warum wurde nicht auf ein Auto umgestiegen? Harald Schaal macht aus seinem Herz keine Mördergrube: "Der Betriebsarzt hatte festgestellt, dass meine Psyche jenseits von Gut und Böse nicht für einen Führerschein reicht. Mein Reaktionsvermögen würde nicht ausreichen, war seine Diagnose mit dem freundlichen Hinweis, besser das Autofahren zu lassen." Dem Ratschlag folgte er ohne Widerspruch. Resultat der Offenbarung: Anfangs mit Bus und S-Bahn in den nahen Bördekreis, dann vor gut zwei Jahrzehnten der arbeitstägliche Umstieg auf das Fahrrad.

Dabei war die erste Zeit der Betriebsanfahrten einiges umfänglicher als heute. "Die neue Kanalbrücke war doch noch auf dem Reißbrett. Meine Tour führte unter der alten Autobahnbrücke entlang, über Wiesen vor Glindenberg, dann auf der Landstraße bis Wolmirstedt. Jetzt ist der Arbeitsweg kürzer, da es über die errichtete Trogbrücke in den Nachbarkreis geht", schildert der enthusiastische Radliebhaber.

Wenn Sachsen-Anhalt das Land der Frühaufsteher sein soll, dann könnte der Niegripper das leuchtende Vorbild sein. "6.30 Uhr fängt mein Dienst im Normalfall an. 5 Uhr muss ich in Niegripp auf das Rad. Aufstehen aus dem Bett gegen 4 Uhr ist die Norm." Sofort fällt ihm ein, dass es im neuen Jahrtausend eine Zeit gab, in der er reichliche Minuten eher aus den Federn musste. Noch weit vor 4 Uhr klingelte der Wecker während des Elbehochwassers 2002! Die Notetappe führte über Lostau, Gerwisch, Biederitz, Herrenkrug, Barleben bis zur Arbeitsstelle.

"Das waren fast 90 Kilometer pro Hochwassertag und zwar über die gesamte Zeitspanne der Flut. So schnell wurde meine gewohnte Strecke nicht trocken, dass ich sie zum ungehinderten Radfahren nutzen konnte."

Erhebt sich die Frage, was im vorigen Jahr während der Elbkatastrophe an Radfahren noch möglich war, von Niegripp bis Wolmirstedt zu gelangen? "Der Arbeitsweg war nicht kompliziert und aufwendig, wie vermutet werden könnte. Die Trogbrücke über die Elbe erwies sich als sichere Zufahrt Richtung Wolmirstedt", lautet sein überraschender Bescheid. Er habe übrigens einen sicheren Maßstab, an dem er ablesen kann, bis wann es möglich ist, den Weg nach Wolmirstedt bei steigenden Elbpegeln ungefährdet befahren zu können. "Nämlich, wenn ich an der Schleuse Niegripp nicht mehr als 5,40 Meter Pegelstand ablesen kann. Klettert der Fluss über die Marke, wird eine Arbeitsfahrt auf der gewohnten Strecke bedenklich", erklärt Schaal.

Wieviel Tachokilometer konnte er im Verlauf der mehr als zwei Jahrzehnte eigentlich auflisten? "187 000 Kilometer bis heute. Bis zur Rente möchte ich 250 000 Kilometer geschafft haben", so sein Wunsch.

Fahrrad hält 30 000 Kilometer

Zeit bleibt Schaal trotz selbstverständlicher Pünktlichkeit am Arbeitsplatz, wenn er frühmorgens oder nach Feierabend Radwanderer auf der Trogbrücke trifft, die ihn anhalten und nach Weg und Bauwerk befragen. "Irgendwie ahnen sie, das ich auf der Tour heimisch bin. Amis, Niederländer und Radwanderer weiterer Nationen und natürlich auch Deutsche konnte ich mit Informationen über Elbe und Trogbrücke versorgen."

Ein ständiges Thema für Harald Schaal dürfte bei der Inanspruchnahme der Verschleiß des Fahrradmaterials sein. "Meine Erfahrung sagt, das ein durchschnittliches Fahrrad nach 30 000 Kilometern intensiver Nutzung nicht mehr rundum betriebssicher ist. Wobei ich sagen muss, dass ich größere Reparaturen von einem Fachbetrieb ausführen lasse. Kleinere Instandsetzungen mache ich aber selbst", stellt der Pedalritter klar. Zwei Räder sind derzeit in seinem Bestand - eine Ausführung für den Sommer, die andere für den Winter. Wieviel Fahrräder er bis zum heutigen Tag überlebt hat, kann er auf Anhieb nicht sagen. Es wird sicherlich eine kleine Parade aufgereihter "Drahtesel" sein, vermutet er grübelnd.

Harald Schaal hat trotz aller Streckenroutine einen Blick auf die vorbeihuschende Natur der Wiesen, Büsche und Wälder. "Biber oder Schwarzstorch begegnen mich am frühen Morgen. Zugegeben selten, aber erfreulich genug. Begegnungen, die ich trotz Zeitdruck nicht außen vor lasse."

Wer so ungebrochen und kraftvoll rund ums Jahr in die Pedalen tritt, von dem ist zu erwarten, dass er mehr an Trips unternimmt als lediglich der tägliche Radweg vom Heimatort zum Arbeitsplatz. Harald Schaal: "Das stimmt. Am Wochenende bin ich zusätzlich sehr oft mit dem Rad unterwegs. Zum Beispiel nach Tangermünde. Ob ich über weiter führende Touren nachgedacht habe? Hin und wieder schon. Warum sollte ich es nicht doch versuchen, den Elberadweg vom ersten bis zum letzten Kilometer abzufahren. Das wäre das Erlebnis!"