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Für vier Millionen Deutsche lautet die Diagnose Depression / Ein Jahr Selbsthilfegruppe Jerichow "Draußen" fehlt das Verständnis

Von Franziska Ellrich 26.04.2014, 03:16

Es ist das Verständnis, das ein Dutzend Menschen regelmäßig an den großen Tisch im Konferenzraum des Fachkrankenhauses Jerichow zieht. Eine Rentnerin sitzt zwischen einer jungen Mutter und einem erfahrenen Arbeiter. Was sie verbindet: Die Diagnose Depression.

Jerichow l 14 Tage sind wieder vorbei. Zwei Frauen betreten überschwänglich den Konferenzraum im Erdgeschoss des Awo Fachkrankenhauses Jerichow. Sie scheinen sich lange nicht gesehen zu haben. Sie sind Mitte Vierzig, umarmen sich fest. Die Begrüßung fällt eher ungewöhnlich aus: "Und wie läuft es mit den neuen Medikamenten?" Heike R.* winkt ab, spricht von zunehmender Müdigkeit.

Ein Jahr lang kennen sich die beiden Frauen nun. Getroffen haben sie sich in der Selbsthilfegruppe Jerichow "Gemeinsam gegen die Depression". Seitdem sitzen sie alle 14 Tage am selben Tisch, meist nebeneinander. Auf dem Tisch ordnet gerade ein junger Mann Wasserflaschen und Gläser für alle Teilnehmer an. Erleichterung ist auf seinem Gesicht zu erkennen. "Zwei Wochen können lang sein." Anfangs hat sich die Gruppe nur einmal pro Monat getroffen, doch auf Wunsch der Mitglieder sind es nun zweimal.

Eine kleine, blonde Frau taucht im Gang des Krankenhauses auf, tritt vorsichtig in den Raum. "Ist das hier die Selbsthilfegruppe?" Sie ist schon die Zweite heute, die das fragt. Sich zum ersten Mal in die Runde traut. Andreas Rückmann steht sofort auf, reicht ihr die Hand, lächelt. "Dort links ist noch ein Stuhl frei, nimm Platz, ich bin Andreas, wir sind hier alle beim Du - so unter Leidensgenossen."

Andreas Rückmann ist seit einem halben Jahr ehrenamtlich verantwortlich für die Selbsthilfegruppe. Er benutzt das Wort "Moderator" - alle seien hier gleichgestellt. Es ist kurz nach 18 Uhr. Ruhe kehrt ein. Zehn Leute sind gekommen. "Gut, fangen wir an, wie ist es Euch in den letzten Wochen ergangen?", fragt Andreas Rückmann in die Runde. Und nickt dem jungen Mann am linken Ende der Stuhlreihe zu. "Ich habe mir mal wieder zuviel zugemutet, aber es ist okay. Ich schwanke zwischen Zwei und Drei", antwortet der. Die Mitglieder geben ihrem Gemütszustand Noten, eine Eins ist gut, eine Sechs schlecht.

"Das kann schon als Kind entstehen, die Gesellschaft macht krank."

Der Mann neben ihm nennt keine Zahl. Er spricht mit einem Lächeln auf den Lippen. "Es hat sich gebessert, ich war am Wochenende sogar zum Fußballspielen." Rückmann kann seine Freude über diese Neuigkeit nicht verbergen: "Ja? Das ist toll." Es sind die kleinen, alltäglichen Dinge, die in Jerichow für strahlende Augen sorgen. Andreas Rückmann weiß, was es bedeutet, wenn "die ganze Welt zusammenbricht". Er konnte eines Tages einfach nicht mehr aufstehen. Sein gesamter Körper schmerzte. Ein Arztbesuch war unausweichlich. Die Diagnose: Depression. Die Symptome: Panikattacken, Versagensängste. Die Ursache: "So etwas kann schon in der Kindheit entstanden sein, die Gesellschaft macht uns krank", erklärt Rückmann.

Nach einem stationären Krankenhausaufenthalt kam die Tagesklinik. Und dann die Frage: "Was soll ich danach machen, wie geht es nach der Behandlung weiter?" Rückmanns Lösung: Die Selbsthilfegruppe. Als dann die Sozialarbeiterin in Jerichow ausfällt und er nach der Leitung gefragt wird, sagt Andreas Rückmann sofort Ja. Die Gruppe entstand im Januar 2013 auf Initiative des Bündnisses gegen Depression, der Tagesklinik des Awo Fachkrankenhauses sowie dem Genthiner Verein Aufbruch. Die Mitglieder kommen alle aus der Region rund um Genthin und Jerichow. Andreas Rückmann reist aus Schönhausen an. Es gebe noch viel zu wenige solcher Selbsthilfegruppen. Denn: "Reden hilft."

Nur einzelne, die mit Rückmann dort angefangen haben, sind jetzt noch dabei. "Einige kommen zwei, drei Mal und dann einfach nicht mehr." Seine Vermutung: Die Gespräche sind immer mal wieder sehr anstrengend und aufreibend. Das könne belastend sein. Doch wem es damit nicht gut geht, der soll am besten kurz den Raum verlassen.

"Als ich auf Arbeit anfing zu weinen, wusste ich, es läuft was schief."

Das Wort verbieten will Andreas Rückmann niemandem. Denn gerade, wer in einer akuten Krise steckt, seine Beziehung, den Job verloren hat oder sogar über Selbstmord nachdenkt, darf mehr Raum als andere erhalten. "Krisen haben Vorrang", lautet eine Regel der Gruppe.

Eine andere: In der Einführungsrunde wird nicht kommentiert. Und aus diesem Grund bleibt auch alles still, als Heike R. den vergangenen Wochen nur die Note Drei gibt und einräumt, dass sie sich an die neuen Medikamente erst noch gewöhnen muss. Ständig machen diese sie müde.

Heike R. hat der Job in die Depression getrieben - Burnout. Der Druck wurde zu hoch. "Als ich im Flur auf der Arbeit einfach anfangen musste zu weinen, wusste ich, es läuft was verkehrt." Sie ist Anfang 50 und musste mehrere Wochen in Behandlung. Jetzt ist sie zurück im Beruf, hat gelernt, Grenzen zu setzen. Dass sie in der Selbsthilfegruppe immer wieder daran erinnert wird, sei wichtig.

"Wenn ich keine Lust habe, bin ich ruhig. Hier wird das akzeptiert."

Große Überwindung habe Heike R. der erste Besuch im Konferenzraum gekostet. "Ich bin mit Herzrasen hergekommen und wollte am liebsten gleich wieder wegrennen." Doch schon nach einer Stunde habe sie gemerkt: "Das sind alles Gleichgesinnte." Niemand der sagt, man solle sich zusammenreißen. Nach den ersten Treffen habe sie abends ganz schön mit den Eindrücken zu kämpfen gehabt, war aufgeputscht. Heute geht sie mit einem guten Gefühl nach Hause, nimmt wertvolle Tipps mit. Einer davon: "Schmeiß weg, was Dir nicht gut tut."

Während Heike R. mit den Anforderungen auf Arbeit kämpft, kämpft ihre Platznachbarin um die Bindung zu ihrer Tochter. "Ich bekomme die Situation einfach nicht in den Griff." Die Gedanken würden den ganzen Tag kreisen, "immer wieder rein und raus". Rückmann fragt beruhigend nach der Einschätzung ihres Gemütszustandes. "Naja", ist die Antwort.

Jetzt kommt eine ältere Frau an die Reihe. Sie ist über 80. "Ich leide wirklich unter der Dunkelheit und bin so froh, dass jetzt die Abende wieder heller werden." Die gesamte Runde nickt verständnisvoll. Andreas Rückmann ist dran: "Ich freue mich auch, dass die Sonne wieder scheint. Es geht mir soweit ganz gut."

Die Einführungsrunde ist vorbei. Rückmann hat sich heute auf das Thema Schlafstörungen vorbereitet. Nach seiner Diagnose hat er begonnen, viele Bücher zum Thema Therapie bei Depressionen zu lesen. Die Diskussion kann beginnen. Wer etwas sagen möchte, meldet sich. Wer nicht, kann einfach zuhören. Heike R.: "Und das Beste: Wenn ich mal keine Lust habe zu reden, kann ich einfach ruhig sein. Das wird akzeptiert." Es ist genau das Verständnis, an dem es ihr "draußen" so oft fehlt.

Die Selbsthilfegruppe trifft sich jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat von 18 bis 20 Uhr im Awo Fachkrankenhaus Jerichow, Johannes-Lange-Straße 20. Informationen gibt es unter Telefon (0 39 33) 9 48 93 58 oder per Mail an aufbruch-ev@web.de.

* Name von der Redaktion geändert.