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Torsten Haarseim schrieb Roman "Gardelegen Holocaust" über das Massaker vom 13. April 1945 "Es lässt mich einfach nicht mehr los"

Von Donald Lyko 23.03.2013, 02:14

Mit "Gardelegen Holocaust" hat Torsten Haarseim sein zweites Buch veröffentlicht. Darin verbindet er die wahre Geschichte des Feldscheunen-Massakers mit einer fiktiven Geschichte zweier Freunde, die sich am 13. April 1945 als Opfer und Täter wiederbegegnen.

Gardelegen l Unten in der Vitrine im Arbeitszimmer liegt ein geschnitzter Holzlöffel. Gleich neben den Holzschuhen, wie KZ-Häftlinge sie getragen haben. Für Torsten Haarseim hat der Löffel eine ganz besondere Bedeutung. Der Vater seines Stiefvaters hat ihn in der Kriegsgefangenschaft geschnitzt. Geschnitzt in Gefangenschaft - das wurde auch der Löffel, der in der Häftlingsbiografie des Romanhelden Erwin Schneider ein wichtige Rolle spielt. Für den jungen Arier, der wegen einer Verwechslung mit einem Juden selbst ins Konzentrationslager kommt, wird der Löffel zum Begleiter in allen Leidenssituationen, zum Symbol seines Überlebenswillens - dafür, den Löffel nicht abgeben zu müssen.

"Ich wollte es für mich wissen, an ein Buch habe ich zu dieser Zeit noch nicht gedacht."

Erwin Schneider, geboren 1926, ist eine der beiden zentralen Figuren. Die zweite ist Hermann Meyer, geboren 1922 und Erwins bester Freund. Beide wachsen in Groß-Rosenburg auf. Dort, wo auch der 1964 geborene Torsten Haarseim seine Jugend verbracht hat. Die Jungen träumen davon, als Piloten dem Führer und dem Vaterland zu dienen. Aber: Der eine wird Fallschirmspringer und in Gardelegen stationiert, der andere kommt ins KZ. Im April 1945 begegnen sie sich wieder. Der eine gehört zu den mehr als 1000 Häftlingen in der Feldscheune Isenschnibbe, der andere zur Wachmannschaft, die draußen steht und auf Fliehende schießt.

So radikal verknappt lässt sich die fiktive Geschichte erzählen, in der Torsten Haarseim sich mit dem Massaker vom 13. April 1945, mit dessen Vorgeschichte, aber auch mit der Geschichte Gardelegens in den letzten Jahren der NS-Herrschaft beschäftigt. Erwin Schneider und Hermann Meyer sind die einzigen frei erfundenen Personen in dem Buch "Gardelegen Holocaust", das vor wenigen Tagen erschienen ist.

Damit setzt Torsten Haarseim einen vorläufigen Schlusspunkt unter eine intensive Arbeit, die vor acht Jahren begonnen hat. Denn 2005 war er, seit 2002 beim AKT arbeitend, nach Gardelegen gezogen, in einen Neubau an der Remonte. Der Weg vom Arbeitsplatz führt morgens und abends vorbei am Massaker-Gedenkstein. "Das war mein erster Kontakt mit dem Thema", erzählt Haarseim, der im Raum Schönebeck aufgewachsen ist.

Er stellte sich Fragen: Was war hier los? Wie konnte es dazu kommen? Wer gab den Befehl für das Massaker? Kann ich das überhaupt nachvollziehen?

Der Gardeleger suchte Antworten. Er besorgte sich Literatur, besuchte Archive, schaute sich Filme und Dokumentationen an, nahm Briefkontakt mit amerikanischen Soldaten auf. Er sprach mit Zeitzeugen, war oft an Orten wie dem Fliegerhorst oder der Mahn- und Gedenkstätte unterwegs, um ein Gespür dafür zu bekommen. Eine der ersten Adressen für seine Recherchen war die Staatsanwaltschaft Stendal. Es bedurfte mehrerer Schreiben und der Hartnäckigkeit des Antragstellers, bis er sich die Unterlagen anschauen konnte, darunter viele Originale wie Verhörprotokolle. Eine Auflistung der Quellen gehört ebenso zum Buch wie eine Liste der Namen der ermordeten und der überlebenden KZ-Häftlinge.

"Ich wollte es für mich wissen, an ein Buch habe ich zu dieser Zeit noch nicht gedacht", sagt der Gardeleger. Irgendwann, einige Jahre später, waren für ihn viele Fragen beantwortet. Das war der Punkt, an dem Haarseim erstmals mit dem Gedanken spielte, seine Rechercheergebnisse schreibend zu verarbeiten. Zu dieser Zeit arbeitete er noch an "German War", seinem ersten Roman. Dieser erschien vor drei Jahren und erzählt ein mögliches Szenario, wenn es 1989 statt der friedlichen Revolution einen Atomkrieg gegeben hätte.

Vor zwei Jahren begann Torsten Haarseim mit dem Schreiben von "Gardelegen Holocaust". Weil es entweder wissenschaftliche Publikationen zu dem Thema gibt oder aber Erinnerungen von Häftlingen, "ohne die Hintergründe wie bestimmte Befehle zu kennen", entschied er sich für einen Roman. Er entschied sich dafür, zwei fiktive Personen abwechselnd aus der Ich-Perspektive ihr Leben und ihre Erlebnisse von der Jugendzeit im Jahr 1936 bis zum Tod zu erzählen.

"Ich wollte die beiden Seiten einer Medaille zeigen, die Opfer und die Täter. Ich wollte mich mit der menschlichen Seite der Geschehnisse beschäftigen." Er bettet die Biografien des Soldaten und des KZ-Häftlings ein in die reale Geschichte, die Torsten Haarseim mit vielen Details erzählt. Details über die in Gardelegen stationierten Einheiten, über Einsätze der Luftwaffe, über die Angriffe auf Gardelegen, über die Freizeit der Soldaten, über die Tage im April, die Tage direkt vor und nach dem Massaker an der Feldscheune. Details aber auch über das Häftlingsdasein im Konzentrationslager, den täglichen Kampf ums Überleben, über die Todesmärsche, die Hoffnungen und die Ängste. In den sehr beeindruckenden Darstellungen des Häftlingsalltags hat Haarseim Schilderungen Überlebender verarbeitet.

"Fast immer erwische ich mich dabei, daran zu denken, wie sie hier lagen."

Seit einigen Tagen gibt es nun das Buch "Gardelegen Holocaust", erschienen im Leipziger Verlag edition winterwork. Viel früher sollte es fertig sein, doch immer wieder fand Torsten Haarseim neues Material. Im November vergangenen Jahres war die letzte Seite beschrieben, ging das Manuskript an den Verlag. Am vorigen Wochenende stellte er "Gardelegen Holocaust" auf der Leipziger Buchmesse vor. Ob ein weiteres Buch folgen wird, weiß er noch nicht. Was er aber weiß: "Ich werde mich weiter mit der Gardeleger Geschichte dieser Zeit beschäftigen." Erinnert wird er weiterhin jeden Tag daran, wenn er den Gedenkstein passiert. "Fast immer erwische ich mich dabei, daran zu denken, wie sie hier lagen. Es lässt mich einfach nicht mehr los."

Das Buch "Gardelegen Holocaust" von Torsten Haarseim ist in der Tourist-Information im Rathaus sowie im Buchhandel, ISBN 978-3-86468-400-5, zum Preis von 18,90 Euro erhältlich.