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Mohamad Ajmal Sahak und seine Familie sind endlich in Sicherheit, der Volksstimme berichtet der Afghane von Terror und Flucht Martyrium: Der lange Weg von Kabul nach Kalbe

Von Gesine Biermann 06.03.2015, 02:18

Sie sind Flüchtlinge. Sie kamen aus Afghanistan nach Deutschland. Seit Juli 2014 lebt die vierköpfige Familie Sahak in Kalbe. Aber warum sind sie hergekommen? Ajmal und Shakila Sahak beantworten diese Frage - und erzählen eine Geschichte, die sich viele Deutsche wohl nur schwer vorstellen können.

Kalbe l Gemütlich ist es in ihrer Altneubauwohnung. Nein, Wertvolles findet sich hier sicher nicht. Die Möbel sind einfach, wenn auch in Ordnung. Aber der Besucher sieht, dass sich hier eine Familie wohl fühlt. Es gibt ein Kinderzimmer, ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine kleine Küche. Von dort kommen gestern morgen übrigens sehr angenehme Gerüche. Shakila Sahak hat kleine Gemüsepuffer gebacken, ein Rezept "aus unserer Heimat", sagt sie lächelnd. Dazu gibt es süßen schwarzen Tee mit Milch, auch das sei typisch afghanisch, versichert ihr Mann Ajmal.

Freundlich fordern beide auf, zuzugreifen. Alles ist so normal wie in Millionen anderer Familien. Nur was die zwei dann erzählen, hat mit einem normalen Leben nicht viel zu tun. Ajmal und Shakila Sahak haben Dramatisches hinter sich. Ein Schicksal, das sich viele Deutsche wohl kaum vorstellen können.

"Sie hassen die Leute nicht, die sich mit den Amerikanern verbünden, sie töten sie!"

Shakila Sahak

Schon ihre Kindheit erleben beide als Flüchtlinge. Shakilas Mutter muss 1979 Jahre ihre Heimat Afghanistan verlassen, ins benachbarte Pakistan fliehen. Denn ihr Mann hat einen hohen Rang bei der afghanischen Armee, wird mit dem Einfall der russischen Truppen 1979 in Afghanistan zunächst gefangen genommen. Er folgt ihr später. Tochter Shakila kommt 1986 in Pakistan zur Welt und erfährt schon als Kind, dass "Flüchtlinge anders behandelt werden".

Ajmal dagegen verbringt noch die ersten zehn Jahre seines Lebens in seiner Heimat, einem Dorf nördlich von Kabul. Der Vater ist Weinbauer. Die Familie hat ein gutes Auskommen. Dann aber wird das Land, auf dem sie leben, zur Frontlinie zwischen den Taliban und den Mudschaheddin. Ihr Haus wird niedergebrannt, wie die Weinfelder. Jetzt flieht auch Ajmals Familie nach Pakistan. Es soll fast zehn Jahre dauern, ehe sie in ihre Heimat zurückkehren können und das meiste wieder aufbauen müssen.

Da ist Ajmal dann bereits 18 Jahre alt - aber immer noch ist Krieg. Mudschaheddin und Taliban bekämpfen sich, dazu ist nahe Kabul die größte amerikanische Militärbasis des Landes entstanden. Ajmal, der Paschto, eine der meistgesprochenen Landessprachen, und dazu Englisch spricht, erkennt in den ausländischen Soldaten eine große Chance für sein Land und für sich selbst. Die Marines stellen ihn als Dolmetscher ein. Das ist gut für ihn, denn neben dem sicheren Einkommen findet er in einigen von ihnen Förderer, die den talentierten Afghanen schließlich sogar zu einem Hochschulstudium animieren.

Doch das alles bringt für Ajmals Familie ungeahnte Gefahren mit sich: Eltern und Brüder leben ständig in Angst, denn wen die fanatischen Taliban mit den verhassten Amerikanern Verbindungen, ist ihr Feind. Was das bedeutet, macht Shakila Sahaks Antwort auf eine einfache Frage deutlich: "Nein", sagt sie kopfschüttelnd, "sie hassen die Leute nicht, die sich mit den Amerikanern verbünden, sie töten sie!" Sicherheit, wenn es sie denn gibt, gibt es nur innerhalb der Militärcamps.

"Bei uns suchen normalerweise die Eltern den Ehepartner aus. Liebesheiraten gibt es nicht."

Ajmal Sahak

Auch Shakila, mittlerweile ist sie Erzieherin und spricht sechs Sprachen, kehrt mit ihrer Familie 2004, und damit knapp ein Jahr später als Ajmal, nach Afghanistan zurück. Da kennt die bildhübsche Afghanin ihren Ajmal bereits. Getroffen haben sie sich nämlich bei einem Computerkurs 2003 in Pakistan. Dass sie sich ineinander verliebt haben, gar heiraten wollen, stößt aber in beiden Familien auf heftigen Widerstand. "Bei uns suchen normalerweise die Eltern den Ehepartner aus", erklärt er. "Liebesheiraten sind nicht möglich." Auf die Frage nach dem Warum, schauen sich beide ein bisschen ratlos an: Es sei so Tradition, versucht er zu erklären. Vorgeschoben werde dann die Religion: "Bei uns wird eben oft Tradition mit Religion verwechselt. Der Islam sagt nichts gegen eine Heirat aus Liebe." Doch das wüssten die Menschen oftmals gar nicht, ergänzt seine Frau: "Manche beziehen sich auf den Koran, aber sie haben ihn nie gelesen", auch weil viele gar nicht lesen könnten.

Dass die beiden jungen Afghanen vielen ihrer Landsleute eine gute Bildung voraus haben, verschafft ihnen allerdings auch keinen besseren Stand. Im Gegenteil. Missgunst und Neid sind oft der Unwissenheit beste Freunde. Den Nachbarn zu trauen, kann tödlich sein, in diesen Zeiten.

"Schon eine Flasche amerikanisches Wasser im Autofonds konnte dich verraten."

Ajmal Sahak

Ajmal hat das allerdings wie kein zweiter verinnerlicht. Insbesondere als er sein Studium an der Hochschule in Kabul mit verschiedenen Praktika verbindet, die ihn in den Süden des Landes führen.

Herrscht nahe der Hauptstadt Kabul noch so etwas wie Sicherheit, auch durch die Anonymität der Großstadt, sind alle, die mit den Amerikanern zusammenarbeiten im südlichen Kandahar in viel größerer Gefahr. Dort aber arbeitet der angehende Bauingenieur schließlich an amerikanischen Projekten, die von afghanischen Firmen ausgeführt werden, und er bleibt nach dem Studium, das er 2010 beendet, dabei.

In welcher Gefahr er im Süden schwebt, wo die Taliban regieren, erzählt Ajmal allerdings keinem in seiner Familie. Er lernt einfach, sich zu tarnen. Er habe sofort den Dialekt der Region angenommen, erzählt er. Er lässt sich einen Bart wachsen und kleidet sich landestypisch, ja, er traut sich nicht einmal den weißen Helm zu tragen, an dem auf den Baustellen die Ingenieure zu erkennen sind. Er lässt sich einen blauen geben, so wie ihn die Arbeiter tragen - alles um nicht aufzufallen und ins Visier der Taliban zu geraten.

Besonders gefährlich sind allerdings die Fahrten nach Hause: Denn die Straße zwischen Kandahar und Kabul gilt als die gefährlichste in Afghanistan.

"Schon eine Flasche Wasser im Auto, wenn es die Marke war, die die Amerikaner tranken, konnte dich verraten", erzählt Ajmal. Wird sein Auto oder der Bus von den Taliban angehalten, steckt seine Handy-Simkarte im Mund und sein Geld im Schuh.

Das alles allerdings nützt ihm nichts. Es ist ein Landsmann, der ihn an die verhassten Feinde verrät: "Einer der Bauarbeiter hat mich gefilmt und das Video an die Taliban weitergegeben", erzählt Ajmal. Kurz darauf klingelt sein Mobiltelefon auf der Baustelle: "Sie haben mit gesagt: Wir wissen dass du mit den Amerikanern zusammenarbeitest. Das ist nicht gut." Aber sie würden ihn am Leben lassen, wenn er mit ihnen zusammenarbeiten würde. "Ich sollte einen Wassertank austauschen", sagt Ajmal. Vermutlich wäre darin Sprengstoff gewesen. "Ich sagte ihnen aber natürlich nein."

Als er dabei bleibt, sich auch nach wochenlanger Einschüchterung nicht auf die Forderung einlässt, werden die Drohanrufer deutlicher: "Wenn wir dich kriegen", sagen sie, "bist du tot."

Nur knapp entgehen Ajmal und ein Kollege schließlich auf einer Heimfahrt nach Kabul einem tödlichen Anschlag. Sie flüchten aus ihrem Auto, werden später von einem Bus mitgenommen.

Das Erlebnis und ein weiteres bewirken in dem 28-Jährigen schließlich eine Veränderung: Ehefrau Shakila, mit der Ajmal seit 2008 endlich verheiratet ist -, "nach fünf Jahren Kampf mit unseren

Familien" -, versucht nämlich sich das Leben zu nehmen.

"Es war einfach alles zu viel", sagt die junge Frau. "Ich musste immer kämpfen in meinem Leben, um meine Ehe, um meine Ausbildung, und ich hatte immer Angst." Die ständige Sorge um das Leben von Ajmal habe sie nach der Geburt ihres zweiten Kindes dann nicht mehr ausgehalten. Das Geld stimmte, die Ingenieure im Süden werden gut bezahlt. "Aber Geld ist eben nicht alles", sagt Shakila.

Sie wird depressiv und nimmt schließlich Tabletten. Zum Glück für Ajmal und die beiden Söhne wird sie rechtzeitig gefunden.

Von diesem Zeitpunkt an, plant Ajmal die Flucht. Er wird bedroht, die Krankheit seiner Frau wird von den afghanischen Ärzten als "Verrücktheit" abgetan und nicht

behandelt. Er will nun alle in Sicherheit bringen. Auf legalem Weg kann das Land jedoch niemand verlassen.

Dafür sorgt der Staat mit seinen Gesetzen. Dafür findet die junge Familie einen Schlepper, der ihnen zusichert, sie für "78500 Dollar in ein Land unserer Wahl zu bringen", erzählt er. Ajmal hat das Geld: Er hat gut verdient, verkauft auch noch sein Haus und sein Auto. Das Geld bekommt ein Treuhänder. Einer seiner Brüder soll die Übergabe in Teilen freigeben, abhängig von den Stationen ihrer Flucht.

"Alle haben geweint und geschrien. Wir haben gerufen: Hier sind kleine Kinder."

Ajmal Sahak

So landet die vierköpfige Familie zunächst in Dubai, erhält dort türkische Visa und fliegt damit in die Türkei. Dass die Visa gefälscht sind, erfahren sie erst, als sie da sind. Damit ist die Reise zunächst zu Ende. Bleiben wollen und können die vier aber nicht. Als Afghanen haben sie in der Türkei kein gutes Ansehen. Und so lassen sie sich auf dubiose Angebote weiterer Schlepper ein. Mit jedem Versuch reiten sich die Sahaks dann aber in neue Probleme. Sie versuchen über Griechenland "in Gummibooten" über einen Fluss zu fahren. Shakila fällt prompt ins Wasser. Sie irren tagelang mit den beiden Kindern und anderen Flüchtlingen "durch Dschungel" im Grenzgebiet der Türkei, beschreibt er. Stundenlang

rennen sie vor Grenzbeamten davon, nur um wieder von einem angeblichen Abholer versetzt zu werden. Sie steigen sogar in ein marodes Boot nach Italien, werden aber - wohl ihr größtes Glück im Unglück - mitten auf dem Meer von der türkischen Grenzpolizei wieder zurückgeholt, aber sie landen insgesamt neun Mal in türkischen Gefängnissen, er allein, sie mit den Kindern.

Die schlimmste Überfahrt, es soll nach Rumänien gehen, wird zu ihrer Rettung. Zwar ist der türkische Kapitän sturzbetrunken, hat nicht mal ein Navigationsgerät an Bord, er wird aber schließlich von Ajmal und anderen überwältigt. Gemeinsam steuern sie das Boot an die Küste. Es ist Bulgarien.

Die dortige Grenzpolizei versucht zunächst, sie mit ihren Booten wieder auf internationales Gewässer zu schicken: "Alle haben geweint und geschrien, wir haben gerufen: Wir haben nicht mehr zu essen und zu trinken, hier sind kleine Kinder", erzählt Ajmal. Die Polizisten hätten sie dennoch nicht anlegen lassen wollen. Dann aber gelingt den Männern das Manöver doch.

Endlich angekommen werden sie schließlich von den bulgarischen Polizisten verspottet: "Wir wollen Euch nicht, gebt uns einfach Eure Fingerabdrücke", hätten sie gesagt, erzählt Ajmal. Welche Bedeutung das hat, wissen die Sahaks indes erst jetzt: Denn Bulgarien gilt als sicheres Land. Sie müssten eigentlich dort bleiben. Dort habe man sie aber schlecht behandelt, erzählt das Paar. Und medizinisch versorgt man sie dort überhaupt nicht. So flüchtet die Familie zu Fuß weiter nach Serbien und Ungarn, und wird später, nach tagelangen Märschen, von einem Schlepper nach Deutschland gebracht.

Und hier kommen die vier zum ersten Mal zur Ruhe, schöpfen neue Kraft. Seitdem sie nach dem Auffanglager Giessen und den Gemeinschaftsunterkünften in Halberstadt und Gardelegen in Kalbe eine Wohnung bekamen, haben sie auch endlich keine Angst mehr: "Kalbe ist für uns das Paradies", sagt Ajmal. Denn endlich sei die Familie in Sicherheit. Seine Ehefrau Shakila wog bei ihrer Ankunft in Deutschland nur noch 45 Kilogramm. Sie wird hier endlich wieder behandelt. Die Söhne haben im Kindergarten schon Freunde gefunden.

"Ich möchte dem Land hier zurückzahlen, was es für mich und meine Familie getan hat."

Ajmal Sahak

"In Kabul hatte ich ein Haus und ein Auto", sagt Ajmal. "Aber der schönste Augenblick an jedem Tag ist jetzt, wenn ich meine Söhne morgens aufs Fahrrad setze und zum Kindergarten fahre." Das, so findet der Afghane, sei das bedeutendste Gesetz in diesem Land, "dass alle Kinder die gleichen Chancen bekommen".

Sein größter Wunsch? Ajmal nennt ihn ohne zu Zögern: "Ich möchte dem Land hier zurückzahlen, was es für mich und meine Familie getan hat." Seine Söhne seien endlich wieder glücklich, sagt er, auch wenn der sechsjährige Tanwir im Dunkeln noch immer nicht hinaus will ("Dann fangen uns die Polizisten Papa"), und auch wenn Shakila noch lange brauchen wird, um die Grauen der Flucht zu vergessen und sich von den Schuldgefühle gegenüber ihren Kindern zu befreien: "Mein ältester Sohn hat während der Flucht immer wieder gesagt: Mama, wohin bringst du mich, willst Du mich umbringen?" Das, so Shakila Sahak, werde sie wohl nie vergessen.

Ob sie bleiben können, in dem Land, das ihnen Zuflucht gab? Ob sie Arbeit finden können, so gut ausgebildet wie beide sind? Ob sie hier leben können? "Wir hoffen es", sagen sie.

Und mit ihnen hoffen es viele, die die Sahaks kennengelernt haben: der Hausmeister im Block, in dem sie wohnen, die Nachbarn im Haus, die Mitpatienten, die Shakila im Krankenhaus kennenlernten, die Bibliothekarin in Kalbe, die unkompliziert Deutschlehrbücher besorgte und Kerstin Stirnat", die den beiden und anderen Flüchtlingen seit Monaten Deutschunterricht gibt und sie unterstützt: "Sie ist unser Engel", sagt Ajmal. Sie und andere haben damit auch dafür gesorgt, dass die Sahaks ihre eigenen Ängste besiegten, die ihnen viele vor Deutschland machten, bevor sie das Land selbst kennenlernen durften.