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Ruth Hopp und Otto Gassel über den Zweiten Weltkrieg und die Demokratie "Ich bin froh, heute die Wahl zu haben"

Von Kristin Schulze 29.03.2014, 01:18

Genthin hat die Wahl. Vier Worte, so belanglos wie selbstverständlich. Dass es nicht selbstverständlich, sondern ein Privileg ist, die Wahl zu haben, zeigt ein Blick zurück.

Genthin l Ob ich zur Wahl gehe? Otto Gassel wiederholt die Frage langsam, runzelt die Stirn. Dass man diese Frage stellen muss, scheint den 93-Jährigen zu ärgern.

Otto Gassel war 13 Jahre alt, als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen. Auch damals hatten die Menschen die Wahl. 44 Prozent hatten bei der Reichstagswahl 1933 für Hitlers Partei, die NSDAP, gestimmt.

Später konnten die Nazis das Ermächtigungsgesetz durchbringen, das Parlament ausschalten und alle anderen Parteien verbieten. Der Rest ist Geschichte.

Geschichte, die auch Ruth Hopp erlebt hat. Vom Krieg hat man hier in Genthin zum Glück nicht allzuviel mitbekommen, erzählt die 86-Jährige. "Schlimm wurde es, als die Russen kamen." Jeden Tag hätte es in der Stadt geknallt. Das junge Mädchen saß mit ihrer Familie im Luftschutzkeller. Immer in Erwartung des nächsten Fliegeralarms.

Und der Vorsitzende der hiesigen NSDAP hielt jeden Tag an der Bismarck-Schule seine Rede, erinnert sie sich. "Immer wieder Durchhalteparolen und Ausflüchte. Dabei waren die Russen längst da."

Den ersten Toten sah Hopp im Mai 1945. "Ein ganz junger Soldat war das. Er wurde erschossen, überall war Blut. Wir haben ihn beerdigt, es war doch so heiß an diesem Tag." Ihre Stimme zittert, wenn sie über dieses Erlebnis spricht. "Mein Vater hat immer die Sozialdemokraten gewählt", sagt Ruth Hopp. Auch 1933, obwohl das gefährlich war. "Heute braucht niemand etwas befürchten, egal wem er seine Stimme gibt. Darum sollte man diese auch nutzen."

"Leute, die nicht wählen gehen oder ihr Kreuz gar bei der NPD machen, die haben nichts verstanden", sagt Otto Gassel. "Eine niedrige Wahlbeteiligung spielt extremen Parteien doch in die Karten."

Was so eine extreme Partei anrichten kann, wenn sie es an die Macht schafft, will Gassel nicht noch mal erleben. 1938 wurde er als Soldat verpflichtet, 1940 ging es von Frankreich über Polen nach Russland. Otto Gassel hatte eigentlich andere Pläne, wollte heiraten, seinem Sohn beim Aufwachsen zusehen. "Unsere Hochzeit war am 3. Januar 1941", erzählt er, nachdem seine Frau und er den "Ariernachweis" erbracht hatten.

Schon am 4. Januar ging es zurück an die Front, bei der Geburt seines Sohnes am 14. Januar war er längst wieder in Frankreich.

Im Oktober 1941 verlor Otto Gassel bei einem Überfall nahe Moskau seinen Unterschenkel. "Ich hatte Wachdienst. Nachts wurden wir von Partisanen überfallen." Seinen Lebensmut verlor Gassel dagegen nie. "Ich hatte solches Glück", sagt er, während er ein Fotoalbum holt. Zum Laufen benutzt er mittlerweile einen Stock, aber brauchen tut er den nicht wirklich. Für einen 93-Jährigen ist er erstaunlich mobil.

"Ich konnte zurück zu meiner Frau, habe meine Kinder aufwachsen sehen, freue mich heute an meinen Enkeln und Urenkeln", sagt Otto Gassel und geht an seinem Fitnessfahrrad vorbei zurück ins Wohnzimmer. "Bewegung muss sein", sagt er und zeigt das Foto von seiner alten Schulklasse. "Damals waren wir 14. Die meisten der Jungs sind im Krieg gefallen." Gassel hält kurz inne, dann hebt er den Blick und sagt bestimmt: "Um auf Ihre Frage zurückzukommen. Natürlich gehe ich zur Wahl. Ich bin ja froh, dass ich jetzt die Wahl habe."