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Marktwirtschaftliche Lektion für Schüler Neunjährigem wird nach Tod des Vaters Mittagessen verweigert

Eine Pflegemutter aus Halberstadt, die einen Grundschüler betreut, sieht
sich von Behörden allein gelassen und vom Essenanbieter unfair
behandelt. Unterm Strich geht es um offene 22,60 Euro, schwierige
Familienverhältnisse und eine Woche Versorgungssperre mit Mittagessen
für den Neunjährigen.

Von Dennis Lotzmann 31.12.2013, 02:18

Halberstadt l Der neun Jahre alte Sven (Name geändert) hat kürzlich eine Lektion in knallharter Marktwirtschaft bekommen: Wer nicht zahlt, bekommt auch nichts. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass der Grundschüler aus Halberstadt gänzlich unschuldig war und dennoch tagelang vergeblich am Ausgabeschalter für das warme Mittagessen anstand.

"Der Junge ging eine ganze Woche lang leer aus, weil noch alte Verbindlichkeiten offen waren", berichtet Pflegemutter Antje Sabe. Und sie ist davon überzeugt, dass ihr Schützling auf Zeit noch länger mit knurrendem Magen hätte in den Hort gehen müssen, wenn sie nicht selbst die offenen Rückstände beglichen hätte. "Dabei geht es um sage und schreibe 22,60 Euro", empört sich die Pflegemutter.

Obwohl das Problem mittlerweile gelöst ist, hat Antje Sabe die Geschichte öffentlich gemacht. "Ich fühlte mich von den Behörden alleingelassen und vom Essenanbieter ohne jede Nachsicht behandelt. Mit dem Gang in die Öffentlichkeit möchte ich verhindern, dass einer anderen Pflegefamilie noch mal ähnliches passiert", sagt sie.

Doch was war überhaupt passiert? Sven lebte früher bei seinem Vater in einem kleinen Harzort. Seine Mutter ist nicht in der Lage, ihn zu betreuen. Doch auch beim Vater waren die Rahmenbedingungen alles andere als optimal - der Mann hatte Alkoholprobleme.

"Ich möchte verhindern, dass einer anderen Pflegefamilie noch mal ähnliches passiert." - Antje Sabe, Pflegemutter

Deshalb gaben die Verantwortlichen im Kreis-Jugendamt das Kind zum Jahresbeginn schon einmal in diese Pflegefamilie - Antje Sabe und ihr Mann Olaf wurden für Sven zunächst zu Eltern auf Zeit. Irgendwann im Frühjahr führte Svens Weg noch einmal kurz zum leiblichen Vater zurück. Der starb wenig später, seit Mai lebt Sven bei Familie Sabe.

Was die Pflegeeltern nicht wussten: In der Zeit des letzten Aufenthaltes beim Vater blieb die Rechnung für das Mittagessen offen. Besagte 22,60 Euro, die wenig später die Volksküche Aschersleben geltend machte.

Für Antje Sabe war dies nicht die einzige Überraschung. "Als Sven zu uns kam, mussten wir ihn erstmal neu ausstatten mit Kleidung, Schulsachen und anderen wichtigen Dingen", berichtet die Pflegemutter. Obendrein sei sie immer wieder mit alten Forderungen und Außenständen überrascht worden. "Da das Kopiergeld, dort der offene Beitrag für den Wandertag - das summiert sich."

Zwar bekomme sie seit Mai vom Jugendamt monatlich rund 500 Euro Pflegegeld für das Kind - dieser Posten sei aber für die laufenden Ausgaben gedacht und keineswegs für alte Verbindlichkeiten. "Trotzdem habe ich immer wieder alte Rechnungen bezahlt, irgendwann ist aber mal Schluss." Konkret bei den 22,60 Euro Essengeld, die Antje Sabe nicht übernehmen wollte.

Eine Entscheidung, mit der die Pflegemutter sowohl das Jugendamt als auch die Volksküche aus der Reserve locken und zum Handeln zwingen wollte. Allerdings vergeblich, wie sie feststellen musste. "Beide stellten sich stur, die Volksküche hat die Versorgung sogar gänzlich eingestellt." Um Sven den knurrenden Magen zu ersparen und die Situation zu entschärfen, gab Antje Sabe einmal mehr nach und zahlte schließlich doch. "Ich will diese Verfahrensweise aber nicht akzeptieren", stellt sie klar.

In der Kreisverwaltung kennt man diesen "speziellen Einzelfall und dessen besondere Umstände", wie Behördensprecher Manuel Slawig sagt. "Das ist insgesamt ein schwieriger Fall. Die offene Essengeld-Rechnung war aber der einzige uns bekannte Posten."

Geht es um dessen Ausgleich, ist die Situation aus Sicht der Kreisverwaltung klar: Es sei ein zivilrechtliches Problem zwischen Vater und Essenanbieter. Da der Vater als Schuldner gestorben sei, müssten nun die Erben einspringen - also die Mutter.

"Heute kenne ich die Fakten und bedauere die Entwicklung und das Schicksal des Jungen." - Sandra Wagner, Geschäftsführerin der Volksküche Aschersleben

So weit, so gut. Weil Svens Mutter dazu gesundheitlich nicht in der Lage sei, möge dieser Hinweis juristisch gewiss korrekt sein - inhaltlich sei er aber völlig unrealistisch, gibt Antje Sabe zu bedenken. "Darum muss sich streng genommen auch nicht Frau Sabe kümmern, sondern der Essenanbieter, der sich an die Erben wenden müsste", ergänzt Manuel Slawig.

Bleibt - es geht immer noch um 22,60 Euro - die Frage, warum die Volksküche Aschersleben als Speiseanbieter so wenig Entgegenkommen und Kulanz zeige, wie Antje Sabe ebenfalls kritisiert.

Geschäftsführerin Sandra Wagner rückt - zum konkreten Fall befragt - zuallererst die marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Fokus. "Wir sind als Unternehmen auf einen Zahlungsfluss angewiesen, schließlich wollen ja auch unsere Mitarbeiter pünktlich bezahlt werden." Der Grundsatz sei klar: Wer bestelle, müsse auch bezahlen. Und in dieser Frage würden alle Kunden gleich behandelt. Obendrein könne es auch nicht ihre Aufgabe sein, die Zahlungsmoral der Kunden zu hinterfragen.

"Es gab in diesem Fall mehrfache Kontakte mit dem Ziel, den offenen Posten auszugleichen", sagt die Chefin, deren Team täglich 3000 Kinderportionen koche. Sie selbst habe die genauen Umstände des Falles damals nicht gekannt. "Heute kenne ich die Hintergründe und bedauere die Entwicklung und insbesondere das Schicksal des Jungen", betont Sandra Wagner.

Worte, die Antje Sabe mit Skepsis sieht. Zumindest die Volksküche-Mitarbeiter in der Schule hätte über die konkreten Hintergründe Bescheid gewusst, entgegnet sie.

Egal. Antje Sabes Hoffnung, dass Jugendamt oder Essenanbieter nun noch mal bei ihr anklopfen und die 22,60 Euro von Amts wegen oder aus Kulanz ausgleichen, ist - bislang - nicht eingetreten. Waren Svens Erlebnisse also doch ein mustergültiges Lehrstück in punkto Marktwirtschaft?