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Entnahme von Essen aus Mülltonnen Ein "Lebensmittelretter" steht vor Gericht

Ein Rentner musste sich vor dem Amtsgericht Halberstadt verantworten.
Sein Vergehen: Aus einer Kaufland-Mülltonne hatte er eine Fischdose und
etwas Schokolade geholt. Im Prozess ging es vor allem um Recht und
Gerechtigkeit.

Von Jörn Wegner 23.06.2015, 03:13

Halberstadt l Am letzten Februartag, gegen 17 Uhr, zog es Erich Ferdinand R. in die Halberstädter Kaufland-Filiale. Sein Ziel: Die Mülltonnen an der Rückseite des Supermarktes. Dort werden abgelaufene Lebensmittel oder solche mit beschädigten Verpackungen entsorgt. R., der nach eigener Aussage schon oft die Kaufland-Tonnen aufgesucht hatte, wurde wieder fündig: Etwas Fisch, Windbeutel, Schokolade und eine Packung Eier. Gesamtwert im Laden: 6,36 Euro.

Für den Diebstahl von "Sachen geringen Wertes" musste sich R. am Montagmorgen vor dem Amtsgericht verantworten. Den Anklagevorwurf weist er in der Verhandlung zurück: "Ich habe Sachen eingesteckt, die aber von keinem Wert sind, die aufgegeben wurden." R. sagt, er wollte die Lebensmittel vor der Vernichtung bewahren. Er suche gezielt Geschäfte in der Stadt auf. "Wo ich Lebensmittel retten kann, da mache ich es." Auch an die Leiterin der Kaufland-Filiale habe er sich einst gewandt: "Wie kann ich Ihnen helfen, Lebensmittel vor der Vernichtung zu retten?" Doch die habe ihm keine Antwort gegeben. Trotzdem rettet er weite Kaufland-Lebensmittel und möchte dies nach eigener Aussage auch künftig tun.

Erich Ferdinand R. geht aus Überzeugung an Mülltonnen, das macht er in der knapp einstündigen Verhandlung deutlich. Er möchte etwas gegen die massenhafte Vernichtung von Lebensmitteln unternehmen. R. sieht sich moralisch auf der richtigen Seite.

"Wir müssen uns heute aber verständigen, was Recht ist", sagt Richterin Brit Wischwill. Sie verdeutlicht, dass sich R. nach geltendem Recht strafbar gemacht habe. Auch der juristische Begriff der Eigentumsaufgabe habe im vorliegenden Fall keine Gültigkeit. Vom Besitzer müsse deutlich gemacht werden, dass er sein Eigentum aufgibt. Dieses nur in eine Mülltonne zu werfen, reiche nicht aus.

"Wenn ich Sie freispreche, beuge ich Recht."

Richterin Brit Wischwill zu R.

Für den Angeklagten herrscht eine große Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit. "Wenn der, der Lebensmittel rettet, bestraft wird, und der, der sie vernichtet, nicht, dann muss das Recht geändert werden", sagt R. Doch dafür sei das Amtsgericht Halberstadt nicht zuständig, wendet Richterin Wischwill ein und ergänzt: "Von Ihrem Gerechtigkeitsempfinden her kann ich das nachvollziehen. Aber wenn ich Sie freispreche, beuge ich das Recht."

Als es in die Zeugenbefragung geht, dreht sich viel um die Frage, wie der Wert der von Erich Ferdinand R. aus der Tonne entnommenen Lebensmitteln zustande kommt. Der Zeuge, ein Ladendetektiv, der R. im Februar erwischt hat, sagt, dass aus Tonnen entnommene Lebensmittel genauso behandelt werden, wie im Laden gestohlene Waren.

In beiden Fällen wird der Verkaufspreis berechnet. Wie es denn sein könne, dass eine angebrochene Pralinenschachtel, die offenbar unverkäuflich war, denselben Wert habe, wie eine vollständige im Ladenregal, fragt der Angeklagte. Doch der Ladendetektiv hat seine Vorschriften, an die er sich halten müsse.

Die Aussage des Ladendetektivs sorgt auch dafür, dass der ansonsten ruhig und besonnen wirkende Angeklagte die Fassung verliert. R. habe Mitarbeitern von Kaufland wiederholt Gewalt angedroht, sagt der Detektiv. Ein Vorwurf, den der Angeklagte zurückweist: "Ich habe niemals jemanden bedroht. Ich bin Pazifist seit dem 16. Lebensjahr." Als R. sich weiter über den Gewalt-Vorwurf beschwert, macht Richterin Wischwill deutlich, dass dieser Aspekt für den Prozess keine Rolle spielt.

Dass die von R. "geretteten" Lebensmittel keineswegs wertlos sind, macht der Detektiv in seiner Aussage deutlich. Die gefüllten Tonnen werden von einem bundesweit agierenden Unternehmen abgeholt, professionell desinfiziert, entfettet und als Energieträger für Biogasanlagen verwendet.

"Und ich sage Ihnen, wir sehen uns wieder."

Erich Ferdinand R. zur Richterin

Zum ersten Mal steht R. vor Gericht, stellt die Richterin nach einem Blick in die Akten fest. Auffällig sei der Rentner nie geworden. Einzig einen früheren Vorwurf, der sich ebenfalls um die Lebensmittelrettungsaktionen des 65-Jährigen drehte, habe es einst gegeben. Ein Verfahren, das aber eingestellt wurde.

Überraschend schlägt schließlich auch dieses Mal die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens vor. "Das ist noch einmal ein Entgegenkommen", sagt die Richterin. Sollte R. allerdings weiter Lebensmittel aus Mülltonnen holen, würde es dieses Entgegenkommen beim nächsten Prozess nicht mehr geben. Er müsse dann mit Geld- und eines Tages auch mit kurzen Haftstrafen rechnen.

R. stimmt dem Vorschlag zur Prozesseinstellung zu. Dass er trotzdem weiter gegen das Wegwerfen von Lebensmitteln angehen wird, macht er allerdings deutlich: "Ich lasse mich nicht kriminalisieren. Und ich sage Ihnen, wir sehen uns wieder."

Auf Volksstimme-Nachfrage, ob es im Hause üblich sei, Menschen wie R. vor Gericht zu bringen, wird aus der Kaufland-Zentrale ausweichend geantwortet: "In solchen Fällen kann es durchaus sein, dass eine Strafanzeige erstellt wird", heißt es in der schriftlichen Auskunft. Ansonsten würden in den Tonnen nur zum Verzehr ungeeignete Waren landen. Waren, die kurz vor Ablauf des Mindeshaltbarkeitsdatums stehen, würden verbilligt verkauft.