1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Havelberg
  6. >
  7. Eine Minderheit kann Gutes erreichen

Pfarrer Ulrich N. Wolff wurde in der Stadtkirche zum Vorreiter der Wende in Havelberg Eine Minderheit kann Gutes erreichen

Von Andrea Schröder 25.10.2014, 03:05

Am 9. November 1989 fiel in der DDR die Mauer. Der Weg in den Westen war frei. Das Geschehen der Wende in den Wochen davor und danach in Havelberg hat Pfarrer i.R. Ulrich N. Wolff maßgeblich mitbestimmt und aufgeschrieben. Vor der Veröffentlichung seiner Erinnerungen sprach die Volksstimme mit dem heute 75-Jährigen.

Havelberg l Friedensgebete gab es in der Stadtkirche meist freitags seit 1978. An Stationen unter der Empore wurde zu verschiedenen Themen gebetet. Im Sommer 1989 bekamen diese Gebete um Einheit und Frieden eine zusätzliche Bedeutung. Es wurde auch für Ausreisewillige gebetet. Das Neue Forum gründete sich. Ende August, erinnert sich Pfarrer Wolff, ging in Havelberg eine Liste herum, auf der sich Interessenten eintrugen. "Zu mir und meiner Frau ist sie allerdings nie gelangt."

"Es war auch Vorsicht geboten"

Die Stimmung wurde unruhiger, Ende September öffnete Ungarn die Grenzen zum Westen. Doch schaffte es kaum noch jemand bis dorthin. Und bald auch nicht mehr in die SSR und nach Polen. Der Pfarrkonvent des Kirchenkreises Havelberg-Wilsnack verfasste am 3. Oktober einen Brief an das Zentralkomitee der SED mit der Aufforderung, die Regierenden sollten mit den Bürgern sprechen und ihre Fehler eingestehen. Diskutiert haben die Kirchenvertreter auch über ihre Einstellung zum Neuen Forum, zur SDP und zu "Demokratie jetzt". Und immer wieder auch darüber, wie weit Pfarrer sich überhaupt politisch einmischen sollten und dürfen.

Zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober ist die Stimmung auch in Havelberg schon angespannt. Zum Friedensgebet am 13. Oktober ist die Stadtkirche mit 21 Anwesenden noch mäßig besetzt, eine Woche später sind es 68. Noch eine Woche später können die über 800 Leute nur noch geschätzt werden, ein Rundgang zu den einzelnen Gebetsstationen ist nicht mehr möglich. Der Wunsch nach politischer Wende erhält auch in Havelberg einen starken Ausdruck. Der Pfarrer wird unvermutet Mittelpunkt des Geschehens.

Er erinnert sich der Zeiten, als so Mancher auf die andere Straßenseite wechselte, wenn er kam, und er das Gefühl hatte, außerhalb der Kirche teils recht allein zu sein. Das hatte sich teils geändert mit der Gründung des Bauhofes der Stadtkirche 1984, der auch private Bauvorhaben erledigte. Auf einmal wurde er mit "Herr Pfarrer" gegrüßt. Doch dass so viele Leute in die Kirche strömten, sogar Beifall klatschten, war neu für ihn. Als Pfarrer war es ihm schon immer möglich, in Predigten offener als andere zu sprechen. "Es war aber auch Vorsicht geboten." Diese Überlegungen, wie weit die Kirche, wie weit er als Pfarrer gehen kann, beschäftigten ihn. Nachzulesen in seinen Erinnerungen, die die Volksstimme in den nächsten Wochen veröffentlichen wird.

Der katholische Pfarrer stand fest an seiner Seite, auch Kirchenälteste. Vom Dompfarrer kam keine Reaktion. Die Stadtkirche wurde zum Mittelpunkt, ihr Pfarrer zum Vorreiter der Wende in Havelberg. "Christian Führer, Pfarrer an der Leipziger Nikolaikirche und eine Schlüsselfigur der friedlichen Revolution in der DDR, machte vor, was man als Pfarrer tun könnte. Dieser Aufbruch könnte uns Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden näher bringen", dachte Pfarrer Wolff. Ganz sorglos konnte er nicht sein. Schließlich hatte er als Theologie-Student nach dem 13. August 1961 die Staatsgewalt der DDR zu spüren bekommen. Er war der FDJ beigetreten, um, wie es hieß, "mitarbeiten und mitregieren" zu können. Seine Äußerungen gegen den Mauerbau, dass in Europa kein Krieg droht, dass Studenten statt in die Kasernen zur Volksarmee zu fahren besser studieren sollten und dass er pazifistische Gedichte veröffentlichte und Studenten, die auf dem Bayerischen Bahnhof in Leipzig auf den Zug zu einer Kaserne warteten, aufforderte: "Geht nach Hause und studiert, es gibt keinen Krieg in Europa", brachten ihm ein Jahr im Gefängnis der Staatssicherheit ein. Sein Studium konnte er erst später fortsetzen.

Das Ziel der Gebete im Herbst 1989 waren Verbesserungen im Staat DDR. Wer die Oberschule besuchen, einen Handwerksbetrieb gründen, Handel beginnen oder studieren wollte, sollte unabhängig vom Wohlwollen der SED auch die Möglichkeit dazu bekommen. "Wir wollten Freiheit für die Menschen in diesem Staat." Dass die Wende dann sogar die Einheit brachte, "da hatte ich nichts dagegen. Das ist das, worauf wir immer gehofft hatten".

Die friedliche Revolution hätte damals noch kippen können. Die Gefahr etwa einer Verhaftung bestand durchaus. "Wirkliche Ängste habe ich aber nicht gehabt", sagt Ulrich N. Wolff und berichtet von späteren Drohanrufen mit blökenden Schafstimmen, Beschimpfungen und Worten wie "Wir kriegen dich". "Vielleicht waren wir zu leichtsinnig, aber ich habe das nie ernst genommen."

Noch immer unklar ist ein Ereignis bei der großen Demo in Havelberg am Abend des 10. November. Ein langer Tross zog durch die Stadt, begleitet von der Polizei. Vor der Robert-Koch-Straße fuhr die auf Motorrädern die Demo begleitende Polizei plötzlich weg. "Merkwürdig. Die Polizei war bisher von Anfang einer Demo bis zum Ende an der Stadtkirche dabeigeblieben. Die Polizei ist weg. Halten wir die vorgesehene Route ein oder nehmen wir den kürzeren Weg durch die Breddiner zur Pritzwalker Straße?" Der Pfarrer entschied sich für den kurzen Weg. In der zweiten Reihe der Demo wird über die ganze Breite der Straße ein Plakat mitgetragen, handschriftlich gefertigt: "Lügen haben kurze Beine, Egon, (Krenz, d.Red.) zeig uns einmal deine." In der Breddiner Straße brach, vielleicht durch Wind, eines der Hölzer, an denen das Plakat befestigt mitgetragen wurde. Der Zug stand. "Es dauerte, anscheinend endlos, bis das Plakat wieder befestigt und sicher gegen den Wind mitgeführt werden konnte. Bald darauf bog der Demonstrationszug auf die Pritzwalker Straße ein. Dort fuhren Lkw der NVA mit aufgesessenen bewaffneten Soldaten vom Camps über die Kreuzung Lindenstraße in Richtung Kaserne ab. Das war ein sehr merkwürdiges Zusammentreffen. Hinterher haben mehrere Leute erzählt, dass da ganz sicher was geplant gewesen wäre, andere: ,das hätte schlimm ausgehen können...` ,wenn die geschossen hätten...`" Pfarrer Wolff weiter: "Bis heute weiß offiziell niemand, was da wirklich gewesen ist und warum die Polizei vorher weggefahren ist. Sieben Jahre später in der Kaserne war ich dabei, als jemand fragte, was der oder der am 10.11.1989 gemacht hat. Alle hatten eine glasklare, sofortige Antwort, niemand war in der Kaserne", beschreibt er "das noch immer dunkle Thema. Es gibt keine Antwort, nur jede Menge Gerüchte".

"Plötzlich Sieger der Geschichte"

Bis kurz vor Weihnachten 1989 gab es Friedensgebete in der Stadtkirche. Die Initiativgruppe Havelberg wurde aus den Friedensgebeten gegründet, aus ihr ging der Runde Tisch für Stadt und Kreis Havelberg hervor. Ulrich N. Wolff trat der DSU bei, seine Frau und er arbeiteten bis 1994 im Stadtrat mit. Er rief 1991 mit Pfarrer Scheil die Diakoniestation ins Leben (heute bei den Johannitern angesiedelt) und gründete 1992 den Rotary Club Havelberg.

Momente, die ihn nachdenklich stimmten, gab es viele. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihm, welchen Wandel seine Kinder - 1989 waren sie 8, 11, 12 und 15 Jahre alt - erleben mussten. Sie waren weder Pioniere noch FDJler und durften keine Klassenbesten sein. "Auf einmal standen sie im Mittelpunkt, wurden gefragt, wie sie über die Dinge denken. Erst galten sie nicht viel, dann auf einmal doch. Sie fühlten sich überfordert. Das hat mich berührt."

Ein anderes Beispiel erlebte er im März 1990 - seit Dezember 1989 betreute er ständig die NVA. Nach den Wahlen vom 18. März begrüßten ihn die Soldaten in der Kaserne: "Hier kommt der Sieger der Geschichte." "Plötzlich sollte die Kirche der Sieger der Geschichte sein. Das hat mich lange beschäftigt." Heute kann er darüber schmunzeln. Er sieht die Wendezeit als ein wichtiges Stück seiner Lebensgeschichte. Die Geschehnisse haben gezeigt, "dass eine entschlossene Minderheit viel Gutes bewirken kann".