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Verena Primus aus Schönhausen schreibt Fluterlebnisse "gegen das Vergessen" auf "Dieser Müllhaufen war mal mein Leben"

Von Anke Schleusner-Reinfeldt 23.05.2015, 03:27

Der zweite Jahrestag des Fischbecker Deichbruchs nähert sich. Viele Wunden sind geheilt, Narben bleiben. "Gegen das Vergessen" gibt es jetzt Flutgeschichten in einem Buch, das eine Schönhauserin geschrieben hat.

Elbe-Havel-Land l "Na, isses wieder schön?" Diese Frage hören so viele Betroffene im Flutgebiet schon seit kurz nach der Katastrophe im Juni 2013 immer wieder. Das Wasser war weg, die Sonne schien und trocknete alles, Politiker stellten schnelle und unbürokratische Wiederaufbauhilfe in Aussicht. Alles wieder gut! Tatsächlich? Nein. Denn hinter den neuen Gardinen leben Menschen, die die Nacht des 10. Juni 2013 und die Tage danach längst nicht verarbeitet haben. Ganz abgesehen von den baulichen Schäden, die noch nicht behoben sind. Fernab des Elbe-Havel-Landes sind die Ereignisse schon fast vergessen. "Das dürfen sie aber nicht!" Verena Primus aus Schönhausen denkt das immer wieder, wenn sie mit Betroffenen erzählt. Und: "Das müsste jemand in einem Buch aufschreiben!" Dieser jemand ist sie selbst. Anfangs nur eine fixe Idee, "denn ich lese zwar gern, aber groß etwas geschrieben habe ich doch nie", reift der Gedanke, sich selbst hinzusetzen, immer mehr. Noch bevor ein Wort zu Papier gebracht ist, steht der Buchtitel fest. "Na, isses wieder schön?"

Verena Primus, die mit ihrem Mann Uwe die Schönhauser Tankstelle betreibt, überlegt, mit wem sie sprechen sollte, welche Fakten nicht fehlen dürfen. "Denn es soll ja kein Jammerbuch werden, sondern der Versuch, einen Querschnitt durch die verschiedenen Lebenssituationen zu ziehen - sachlich, aber auch so emotional, dass man sich als Außenstehender ein Bild machen kann von dem, was die Menschen nach dem Deichbruch erlebten und wie sie die Situation meisterten. Es sind Geschichten voller Verzweiflung und Wut, aber auch voller Optimismus." Verena Primus, selbst mit der Tankstelle und dem Wohnhaus zumindest teilweise betroffen und noch mit den Nachwirkungen kämpfend, schreibt im Vorwort: "Diese Geschichten müssen heraus aus uns! Bei jedem möglichen Treffen erzählen wir uns diese Geschichten, immer und immer wieder. Fremden in unserer Runde versprechen wir, dass wir gleich über etwas anderes reden. Aber zwei, drei Gesprächsfetzen weiter sind wir wieder beim alten Thema. Wir können nicht anders. In einer Art kollektiver Psychotherapie müssen wir erzählen und hoffen so instinktiv, etwas von den unglaublichen Erlebnissen verarbeiten zu können. Und mal ehrlich, die Damen und Herren Therapeuten hätten sowieso nicht genug Termine für uns viele - und wir, wir haben keine Zeit. Wir müssen das Leben neu sortieren und im wahrsten Sinne des Wortes neu einrichten, umbauen und wieder zu uns finden."

"Man könnte hunderte Geschichten schreiben."

Dem folgen nach einem kurzen Rückblick auf die Tage, in denen die Flutwelle mit immer stärker werdendem Regen und bedrohlich steigendem Pegel auf das Elbe-Havel-Land zurollte, 23 Geschichten über Menschen, die Verena Primus ihr Erlebtes erzählen. "Das waren meist sehr bewegende Termine. Nicht selten sind Tränen geflossen. Aber die Betroffenen strahlten auch Zuversicht aus, wie die 77-jährige Elisabeth in "Ein Häuschen mit Garten". Gerade erst in ihren schmucken Alterswohnsitz am Schönhauser Ortsrand mit Blick auf die Elbwiesen eingezogen, vernichtete die Flut alles. Sie wundert sich heute, dass sie die Zeit der Umzüge und des Lebens aus nur zwei Reisetaschen mit so viel Gelassenheit überstanden hat. Dabei hat ihr neben der Familie ihrer Tochter auch die Weisheit ihrer 100-jährigen Mutter geholfen: "Es gibt nicht nur eitel Sonnenschein, auch trübe Tage müssen sein, um die Zeiten des Glücks besser einordnen zu können." Mit viel Optimismus und Schaffenskraft ist Elisabeth inzwischen zurück in ihrem Häuschen mit Garten.

Gesprochen hat Verena Primus mit den Menschen, die ihr Hab und Gut und damit jegliche Erinnerungen an früher verloren, die sich auf den Inseln mit Solidarität und Einfallsreichtum über Wasser hielten, mit den Bürgermeistern Bodo Ladwig, Alfons Dobkowicz und Bernd Witt, mit Geschäftsleuten, die sich eine neue Existenz aufbauen mussten, mit dem Geschäftsführer der Scharlibber Agrargenossenschaft, der so stolz auf seine Mitarbeiter und die Helfer ist, weil sie es mit unermüdlichem Einsatz schafften, den 8000 Schweinen das Leben zu retten, mit Landwirten, die vor einer vernichteten Ernte und durch Evakuierung völlig irritierten Milchkühen standen, mit Ärzten, die nach Schönhausen kamen und Tetanus-Impfungen verteilten, mit Klaus aus dem Spendenlager... "Man kann hunderte Geschichten schreiben. Jeder Einzelne hier in der Region, ob unmittelbar betroffen oder auch nur, weil er mit dem Hubschrauber ausgeflogen wurde und die Zeit im Lager oder bei Verwandten verbringen musste, hat berührende Erinnerungen, die einfach nicht vergessen werden dürfen."

Es gibt so viele Kleinigkeiten. Wie die Episode eines Schönhausers, der vom Besuch eines Versicherungsvertreters inmitten des Aufräumens auf dem Hof berichtete: Der Herr im Anzug war gekommen, um die Schäden zu protokollieren. Und sagte salopp: "Dann wollen wir uns den Müllhaufen mal anschauen." Der Betroffene war beinahe sprachlos: "Dieser Müllhaufen war mal mein Leben!"

Verena Primus leistet mit dem knapp 150 Seiten starken Buch, das auch ein paar Bilder enthält, ihren Beitrag "gegen das Vergessen". Nicht immer war sie sich sicher, ob sie den Nerv getroffen hat - Testleser ermutigten sie, genau so weiter zu machen. Am Ende, als alle Geschichten zu Papier gebracht waren, machte sich die Schönhauserin auf die Suche nach einem Verlag. Ein bei Uelzen ansässiges Unternehmen hat das Manuskript in die Hände genommen, "es war schon ein bewegendes Gefühl, das erste Buch in Händen zu halten". Inzwischen ist es in allen Buchhandlungen zu haben. In Lesungen will die Schönhauserin es hier im Elbe-Havel-Land und auch anderswo vorstellen, damit nichts von dem in Vergessenheit gerät, was die Menschen für alle Zeit geprägt hat.