1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Salzwedel
  6. >
  7. Medizinische Hilfe für "Illegale"

"Praxis ohne Krankenschein" Medizinische Hilfe für "Illegale"

Eine Arztpraxis in Lüchow ist Anlaufpunkt für Menschen, die sich illegal
in Deutschland aufhalten. Sie trauen sich, aus Angst entdeckt zu
werden, oft nicht, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Von Björn Vogt 16.04.2015, 01:16

Salzwedel/Lüchow l Es ist eine wahre Geschichte, die der Facharzt für Allgemeinmedizin Karlheinz Pralle aus dem benachbarten Lüchow erzählt: Im Frühjahr 2015 verstarb im Landkreis Lüchow-Dannenberg ein Flüchtling, der behördlich nicht gemeldet war und im Untergrund lebte. Der "Illegale" starb an den Folgen eines eitrigen Zahnabszesses, der ins Gehirn gewandert war. Aus Angst vor Entdeckung weigerte er sich, rechtzeitig einen Arzt aufzusuchen. Der Flüchtling wurde zwar noch im Dannenberger Krankenhaus behandelt, "aber da war es schon zu spät, um ihn noch zu retten. Hätte er zuvor unser Angebot der "Praxis ohne Krankenschein" wahrgenommen, könnte er noch leben", steht für den Mediziner aus der Nachbarkreisstadt fest.

Seit nunmehr 18 Monaten gibt es hier die Praxis ohne Krankenschein, die jeden behandelt, ohne Geld oder persönliche Daten zu verlangen. "Wir behandeln auch anonym und melden niemanden weiter - garantiert!", betont Pralle. Im alten Awo-Haus, wo die provisorische Praxis bis zum 1. April untergebracht war, ging es beinahe konspirativ zu: Wer an dem Klingelschild läutete, wurde von einem ehrenamtlichen Mitarbeiter in Empfang genommen und ins Hinterhaus zum Arzt gebracht. Niemand wurde nach dem Namen oder einer Chipkarte gefragt.

Wegen der besseren Räumlichkeiten ist die Praxis seit dieser Woche in Lüchow im Mehrgenerationenhaus "Allerlüd" an der Berliner Straße 5 erreichbar. Jeden Mittwochnachmittag von 15 bis 17 Uhr, wenn andere Arztpraxen schließen, richtet Pralle zusammen mit seinen ehrenamtlichen Helfern im "Allerlüd" sein Behandlungszimmer ein. Dann wird die mobile Klappliege aufgebaut, Stühle für Patienten werden um einen Tisch gestellt. Kurz vor 15 Uhr öffnet der Arzt seinen Arztkoffer, legt Stethoskop, Einmal-Handschuhe und Verbandmaterial bereit. Manchmal stünden sechs Patienten vor der Tür. "Manchmal kommen gar keine", erzählt Pralle.

Keine Versicherung

Der Mediziner berichtet: "In Deutschland besitzt etwa ein Prozent der Bevölkerung keinen Krankenversicherungsschutz, das heißt, dass eines der reichsten Länder der Welt es sich `leistet`, 800000 Menschen von einer medizinischen Versorgung auszuschließen, sofern sie diese nicht selbst bezahlen können."

Die Betroffenen sind unter anderem in Insolvenz geratene Selbständige, die sich die Kosten ihrer privaten Krankenversicherung nicht mehr leisten können, Arbeitsimmigranten, die von ihren Arbeitgebern hier nicht gemeldet wurden, und Flüchtlinge, die im Untergrund leben.

"In fast jeder Arztpraxis laufen solche "Fälle" auf", berichtet Karlheinz Pralle weiter. Um diesen Menschen eine medizinische Versorgung zukommen zu lassen, hat der Facharzt gemeinsam mit dem Awo-Regionalverband und anderen ehrenamtlichen Helfern im Wendland die "Praxis ohne Krankenschein" gegründet, die durch Spenden finanziert wird. Hier wird allen bedürftigen Menschen unabhängig von Nationalität, Religion, Alter und Geschlecht, medizinische Hilfe - und auf Wunsch eine fachkundige Sozialberatung - angeboten.

Gutes Netzwerk

Pralle hat mit seinen Helfern inzwischen ein gutes Netzwerk aufgebaut: Drei Apotheken kooperieren mit der "Praxis ohne Krankenschein" und stellen den Patienten die nötigen Medikamente zur Verfügung. Ein Labor analysiert kostenlos Blutproben, Dolmetscher helfen bei Verständigungsproblemen. Rund ein Dutzend Fachärzte, etwa Gynäkologen oder Chirurgen, helfen, wenn spezielle Behandlungen nötig sind.

Am vergangenen Mittwoch nahm eine Patientin aus dem albanischen Raum das Angebot an - und konnte nach kurzer Zeit die Praxis wieder verlassen, sie war nicht ernsthaft erkrankt. Begleitet wurde sie von Dolmetscherin Serbez Heindorf. Die Patienten in der "Praxis ohne Krankenschein" haben die unterschiedlichsten Probleme. Einige leiden unter Atemwegs-Erkrankungen andere unter Diabetes, mitunter sind die Frauen schwanger und erhoffen sich Hilfe für sich und ihr ungeborenes Kind. Viele kommen mit unklaren Bauchschmerzen oder gar Depressionen. Gerade Flüchtlinge hätten "gravierende Erfahrungen gemacht. Sie tragen oft andere Probleme als körperlich-gesundheitliche Beschwerden mit sich herum", so Pralle, der deswegen auch ehrenamtliche Psychotherapeuten für sein Team sucht. Auf Wunsch kann sogar ein kostenloser Fahrdienst arrangiert werden. Sprechzeiten - auch anonym - sind jeden Mittwoch, 15 bis 17 Uhr, in der Berliner Straße 5 in Lüchow.