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Im Stadtarchiv Calbe werden historische Banknoten aufbewahrt / Ältestes Dokument wurde 1337 verfasst Frau Müller hat einige Millionen im Tresor

Von Thomas Linßner 12.09.2014, 03:11

Staatliche Kommunalaufsicht aufgepasst: Die Stadt Calbe bunkert einige Millionen Mark im Tresor. Dabei handelt es sich allerdings überwiegend um Inflationsgeld aus den 1920er Jahren. Seit Mai 1991 trägt Angelika Müller für das Stadtarchiv die Verantwortung. Im Herbst geht die 62-Jährige voraussichtlich in Altersteilzeit.

Calbe l "Das kommt besonders bei Kindern gut an", lächelt Angelika Müller, während sie den schweren Tresor mit mehreren Schlüsseln öffnet. Sofort denkt der Olsenbande-Gucker an "Franz Jäger, Berlin ". Doch diese Marke aus der dänischen Fernsehklamotte gibt es überhaupt nicht. Laut Typenschild steht in Calbe vielmehr ein echter "F. Purcel, Magdeburg".

Klingt aber auch schön.

Die Archivpflegerin entnimmt ihm einen dicken Geldstapel: Banknoten der Kaiserzeit, Inflationsgeld, Mark des Dritten Reiches und der DDR. Nur D-Mark fehlt, denn die ist schließlich noch gegen Euro eintauschbar. Ließe sich das Geld eins zu eins umtauschen, stünde die Saalestadt dicke da ...

Von hartem Stahl beschützt lagern im Tresor aber auch Antifa-Akten. Aus ihnen geht hervor, wer nach dem Krieg als aktiver Nazi oder als Mitläufer eingestuft wurde. Einige von ihnen waren später bekannte SED-Genossen.

Kein uninteressantes Zeug, also.

Offenbar erkannten Calbes Stadtväter immer schon, wie wichtig es ist, die Archivstelle zu besetzen. Im Mai 1991 trat die ehemalige Elbia-Industriekauffrau nach ihrer Umschulung den (öffentlichen) Dienst an. Anfangs in ABM-Tätigkeit, zwei Jahre später als Festanstellung. Zwar nur vier Stunden täglich, aber immerhin.

Angelika Müller hat zwischen Hexenturm und Rathausboden die historischen Fäden in der Hand: Zeitungsbände, Ratsprotokolle, Bauakten.

"Ein Muttchen in uraltem Pelzmantel, Kopftuch und schlichter Handtasche fragte ganz ängstlich, ob sie den Stempel bekommt."

Zu den Hauptaufgaben eines heutigen Archivpflegers gehört auch die Recherche in Sachen Ahnen- oder Ostarbeiterforschung. Letztere brauchen für ihren Rentennachweis ein behördlich beglaubigtes Papier, das ihre Tätigkeit im Dritten Reich nachweist. Die Frauen und Männer arbeiteten als Zwangsarbeiter in Betrieben oder landwirtschaftlichen Gütern. Besonders in den 1990er Jahren standen hauptsächlich Polen bei Müller Schlange. Was im postalischen wie auch direkten Sinne zu verstehen ist. "Ich werde nie vergessen, wie eines Morgens eine polnische Familie vor der Tür wartete", erinnert sich die 62-Jährige. Sie hatte in einer Nebenstraße im Auto übernachtet, weil sie sich kein Hotel für harte D-Mark leisten konnte. Der Opa war Zwangsarbeiter in Bartelshof (Damaschkeplan) gewesen und brauchte nun dafür eine Bestätigung. In diesem Falle fand Angelika Müller seinen Namen in einer Liste recht schnell und beglaubigte den Aufenthalt. Für die betagten Antragsteller aus dem Osten bedeutete das jedes mal eine Aufbesserung ihrer kargen Rente.

Auch einen anderen Fall wird die Calbenserin nicht vergessen. "Ein Muttchen in uraltem Pelzmantel, Kopftuch und schlichter Handtasche fragte ganz ängstlich, ob sie den Stempel bekommt." Auch dieser Oma konnte geholfen werden. "Mir steigen heute noch die Tränen in die Augen, wenn ich an sie denke: Sie war so dankbar, dass sie zum Abschied gesagt hat: `Deutsche Menschen doch nicht schlecht`", erzählt Angelika Müller.

Aber auch Histörchen ganz anderer Art erlebte sie in den zurückliegenden 23 Jahren. Als ein Ehepaar die Geschichte ihres Großvaters erforschte, bekam es Stielaugen: Der Opa war ein kleiner Felix Krull gewesen. Er hatte seine Familie in Calbe sitzen gelassen, sich anderswo als betuchter Gutsherr ausgegeben und dort eine "gute Partie" gemacht.

In die Rubrik "Rosamunde Pilcher" würde auch folgende Geschichte passen: Ein verwundeter Wehrmachtssoldat - er lag im provisorischen Lazarett am Kino - traf dank Angelika Müller seine ehemalige Pflegerin wieder. Die beiden Hochbetagten waren sehr bewegt, als sie sich gegenüber standen. Was eigentlich nicht unbedingt die Aufgabe einer städtischen Archivpflegerin ist, aber der Stadt Menschlichkeit bescheinigt.

Eines der ältesten Papiere des Stadtarchivs ist übrigens ein schweinelederner Band Schuldverschreibungen, dessen ältestes Blatt von 1373 (!) stammt. Während andere Vorgänge im Laufe der Jahrhunderte abhanden kamen, wurden diese Papiere sorgfältig gehütet. Was mal wieder zeigt, dass, weil´s um´s Geld ging, die Kommunaloberen zu allen Zeiten sehr sorgfältig sein konnten.