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100 Jahre Erster Weltkrieg: Calbenser Zeitdokumente zeichnen auch ein Bild von Desillusionierung Soldat Kurt schreibt über sinnlosen Krieg

Von Dieter Horst Steinmetz 30.09.2014, 01:11

Mit Fortgang des Ersten Weltkrieges verfliegt die anfängliche Euphorie immer mehr. Ein Blick in Calbenser Zeitdokumente verrät, wie an der Front und in der Heimat über die Sinnlosigkeit der langen Stellungsschlachten berichtet wird.

Calbe l In den Argonnen, wo die Fronten sich festgefressen hatten und ein erbitterter Kampf um ein Vor oder Zurück tobte, lagen die vielen Toten unbeerdigt, teilweise in Bergen übereinander im aufgewühlten und zerfurchten Niemandsland. Trotz "unglaublich heftigen Durchbruchsversuchen" und stündlich wiederkehrendem Hagel von Granaten, Schrapnells und Infanterie-Geschossen konnten die deutschen Soldaten die Stellungen halten, wie ein Calbenser berichtete.

Ein anderer Soldat aus Calbe schilderte die schneeweißen Unterstände, welche die Soldaten in den Kreide-Boden der Champagne bei Reims gehauen und gegraben hatten. Da gab es während des vier Jahre dauernden Stellungskrieges im Untergrund regelrechte durch Gräben verbundene "Städte". Nur die von feindlichen Geschossen getöteten "Bewohner der weißen Stadt", so bemerkte der Schreiber sarkastisch, mussten nach oben auf den "großen Friedhof" des Niemandslandes geschafft werden.

Verzicht der Rückführung in Kreiszeitung gedruckt

Die Calbenserinnen und Calbenser wurden behördlicherseits in der Kreiszeitung gebeten, von der Bitte um Rückführung der lieben Gefallenen Abstand zu nehmen. Es war im Geschosshagel oft schon schwierig, die Toten an Ort und Stelle zu begraben, geschweige denn, sie zurück in die Heimat zu transportieren. Häufig waren die Gefallenen in dem "Stahlregen des grässlichen Maschinenkrieges" entstellt oder ganz und gar bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt worden. So sei "für den Soldaten das Schlachtfeld das schönste, ehrenvollste Grab". Noch heute finden Bauern in den Gebieten der langgezogenen Stellungskriegs-Frontlinien, besonders in Frankreich, Überreste der Gefallenen.

Der Soldat Kurt aus Calbe schilderte in einem langen Feldpostbrief die Sinnlosigkeit eines sich stetig wiederholenden Sturmangriffs auf die gegnerische Seite: Die Dunkelheit war hereingebrochen, als die Männer aus dem Schützengraben stiegen. "Im Schritt ging es vor. Über uns schoss schon seit geraumer Zeit unsere Artillerie, leichte und schwere." Nach wenigen Metern wurden Kurt und seine Kameraden von einem heftigen feindlichen Kugelregen empfangen. Auch die gegnerische Artillerie versuchte die Vorwärtsstürmenden zu erfassen. Es hieß "Sprung auf", geduckt mit schwerem Gepäck laufen und sich wieder hinwerfen - und das fast dreißig Minuten lang. Als das Schrapnell-Feuer sich an sie heranzutasten begann, galt es, sich schnellstens bis unter die Erde einzugraben. So wartete der Calbenser einige Stunden mit klopfendem Herzen und hungrigem Magen in seinem Erdloch. Nachts um 1 Uhr wurde endlich befohlen: "Von rechts zu Zweien zurück!" "Wir kamen, nur von wenigen Kugeln belästigt, in der alten Stellung wieder an, die durch Ablösung schon besetzt war. Mit noch einem Pionier machte ich mich dann auf den Weg in unser Quartier. Halb tot kamen wir dann nachts 3 Uhr dort an. Etwas wurde gegessen, dann ging es zu Bett, ein Teil der Leute war schon dort zurück." Während er seinen Brief nach Hause schrieb, zählte Kurt die nach geraumer Zeit eingetroffenen Kameraden. Von den zwei ihm bekannten Zügen mit rund 100 Mann waren nur 36 Soldaten wieder zurückgekehrt. Am Schlimmsten sei es immer zu Beginn eines solchen Sturmangriffs, da erwischte es die meisten. Der Brief Paul Jenneks aus Dornbock führt uns vor Augen, wie die einfachen Soldaten den von ihrer Führung veranschlagten Wert ihres Lebens sahen: wie "Blasen auf dem Wasser", eben noch da, und schnell vergangen. Um der Absurdität einen Sinn zu geben, resümierte der schlichte Mann: "Wir sind einmal dazu hier, um Euch (gemeint war Pauls Familie) zu sichern und zu schützen." Wenige Tage später war er tot.

Nicht nur die Angehörigen schickten ihren Soldaten Päckchen. Als Zeichen der Solidarität der gesamten Bevölkerung war die "Liebesgaben"-Bewegung entstanden. Wildfremde Menschen aller Schichten versandten Pakete mit Süßigkeiten, Hygieneartikeln, Schals, Wollsocken und anderem, die in den Kompanien an der Front verteilt wurden. Auch die oberen Schulklassen beteiligten sich. So manchem jungen Soldaten wurde im kalten und nassen Schützengraben warm ums Herz, wenn er ein kleines Geschenk und liebe Grüße von einem 14-jährigen Schulmädchen erhielt. In einer Feldpostkarte aus Russland vom 23. Januar 1916 bedankte sich ein Soldat bei einer Schülerin aus Calbe: "Meine liebe, kleine Freundin! Der glückliche Empfänger Deines lieben Weihnachtsgeschenkes war meine Wenigkeit, habe selbiges heute empfangen und mich herzlich über die schönen Gaben gefreut. Liebe Kleine, ich sage Dir hierdurch meinen herzlichsten Dank, möge Dir der liebe Gott nur Gutes im Leben bescheren. Ich werde Dir oft und gern im Feld gedenken. Mit Stolz erfüllt es uns Feldgrauen, solche lieben Menschen in der Heimat zu wissen. Es grüßt Dich aus dem fernen Russland Dein treuer Freund, Unteroffizier Schulze."

Durch die harten Handelsblockaden und die bevorzugte Versorgung der Frontsoldaten litt die Zivilbevölkerung in der Heimat großen Hunger und Mangel an allem Lebensnotwendigen. Es ist den Calbenserinnen und Calbensern hoch anzurechnen, dass sie trotz alldem eine starke Solidarität mit den Soldaten, Verwundeten und Hinterbliebenen der Gefallenen übten. Obwohl sie 1916 selbst kaum noch etwas zu essen besaßen, gaben sie oft ihr Letztes für "Tafeln" der Verwundeten hin, spendeten Geld und Wertsachen, zeichneten Kriegskredite, versorgten Kriegsbeschädigte und vieles andere - und das alles in der Hoffnung, dass auch durch ihre Anstrengung der Krieg bald zu Ende gehen möge. Seit 1915 war Weihnachtsbäckerei verboten, es gab keine Silvester- und Faschingsfeiern mehr. Statt der Kartoffeln, die wegen der Fäule 1916 knapp geworden waren, aß man Steckrüben und oft auch allerlei Wiesenkräuter. Das "Kriegs-Brot" und die wenige Wurst, die es nur nach langem Schlangestehen auf Lebensmittelmarken gab, wurden gestreckt. Schlachten durfte man nicht mehr, das meiste Fleischvieh war ohnehin bereits für die kämpfende Truppe requiriert worden.

Die Desillusionierung der Bevölkerung des Kreises Calbe und die Wut über die propagandistischen Lügen spiegelten sich in den Todesanzeigen für die Gefallenen wider: Statt vom "Heldentod für Kaiser und Vaterland" war nun inzwischen ganz drastisch vom Tod durch "Bauchschuss beim Sturmangriff in Russland" oder vom Sterben "im Feldlazarett an den Folgen eines Kopfschusses" die Rede, und es hieß in der Anzeige für zwei gefallene Schiffer: "Wann endlich hat ein Ende der schreckliche Krieg?"