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Ein bisschen "Feuerzangenbowle" / Weil ein Schüler heimlich den Lichtschalter betätigte, fiel die Mathestunde aus Ein Unterrichtssaboteur aus der Klasse 10b

Von Thomas Linßner 31.12.2014, 02:15

Ein bisschen "Feuerzangenbowle" hat wohl jeder Leser in seiner Schulzeit erlebt. So blieben die mehr oder weniger originellen Streiche auch in der Polytechnischen Oberschule Barby nicht aus. Eine wahre Geschichte:

Barby l Lehrer Karl Sauer (Name geändert) ist ein harter Kerl. Er unterrichtet Mathe. Wer seine Leistungen bringt und mit ihm auf Wellenlänge ist, hat es gut. Dem eröffnen sich die Geheimnisse der Mathematik auf wunderbare Weise. Aber wehe dem, der nicht nach seiner Pfeife tanzt oder mal eine Meinung äußert, die nicht der seinen entspricht - der durchläuft ein Martyrium.

Karl Sauer wird von seinen Schülern gefürchtet. Er ist die Inkarnation einer Respektsperson. Die Eltern, jedenfalls die meisten, stehen im Zweifelsfall hinter ihm. Ende der 60er Jahre ist das noch so. Egal ob dem Schüler Recht oder Unrecht widerfährt.

Wenn Karl Sauer die Klasse betritt, stehen die Schüler auf. Er hasst Unpünktlichkeit und "uneffektives Gelaber" in seinem Unterricht. Die Erfüllung des Lehrplans mit allen Mitteln ist stets oberstes Gebot. Kommt dem etwas dazwischen, etwa die unumgängliche Reformande infolge einer Disziplinlosigkeit oder gar eine technische Störung, knirscht Karl Sauer mit den Zähnen.

Eines Tages - es ist kurz vor Weihnachten 1970 - sitzt die Klasse, seine Klasse 10b, im Raum 18. Der liegt im zweiten Stock unter dem Dach. Auf dem Stundenplan stehen die Sinus- und Kosinusfunktionen, die Berechnung von Seiten und Winkeln eines Dreiecks. Erste Stunde, draußen ist es noch dunkel.

Die Schulklingel verkündet den Unterrichtsbeginn. Karl Sauer verschränkt energiegeladen die Arme vor dem Oberkörper und beginnt: "Die Gegenkathete hat eine Länge von drei Zentimetern und die Hypotenuse von fünf Zentimetern. Wie groß ist der Winkel Alpha?"

Wie im Kohlenkeller ...

Zwei Hände schälen sich aus dem noch schläfrigen Klassenkörper, dessen Rest grübelt oder jedenfalls so tut. Klassenprimus Manfred aus Glinde wird zur Tafel gerufen, um die Unwissenden mit weißer Kreide auf dunkelgrünem Grund an seinem Lösungsweg teilhaben zu lassen. Wie er sich anschickt, die Zahlen in die Sinus-Gleichung einzusetzen, gibt es einen leichten Klick.

Das Licht geht aus. Im Klassenraum ist es plötzlich so dunkel wie im Kohlenkeller von Hausmeister Buchholz.

Manfred, mit der Kreide in der Hand, kann seinen logisch-mathematischen Gedankengängen keinen Ausdruck mehr verleihen. Jedenfalls keinen schriftlichen. Irritiert steht er an der Tafel und brummt: "Unn nu?"

Lehrer Sauer erstarrt. Man sieht es förmlich, obwohl es stockfinster ist. Sekunden später reagiert er. Er tastet sich am Lehrertisch vorbei zur Tür des Raumes 18, der ihm seit Jahren so vertraut ist. Als er sie öffnet, ist auch der Flur dunkel.

Ja, die ganze Schule.

Aus einigen Klassenräumen erhebt sich Gemurmel, das zu heiterem Frohlocken anschwillt. Je nach dem, wie gut der jeweilige Pädagoge sein Schulvolk im Griff hat.

Bei Karl Sauer wird nur leise, aber vernehmlich heiter geflüstert.

Der gestrenge Lehrer murmelt etwas von "so ein Mist" und "gescheiterten Vorbereitungen für eine Mathe-Arbeit". Dann kommt er in den Raum 18 zurück und ergibt sich seinem Schicksal.

Im Dunkel ist zwar gut Munkeln, aber schlecht Dreiecksberechnungen pauken.

Vielleicht sollte er mit seiner 10b Kopfrechnen üben? Nötig hätten es viele. Das würde auch im Dunkeln funktionieren. Doch diesen Gedanken verwirft der gebürtige Oberschlesier schnell, der noch immer den harten Akzent seiner alten Heimat spricht. Er ist schließlich kein Grundschullehrer ...

Während Sauer noch darüber sinniert, wie er das Beste aus dieser vertrackten Situation machen kann, bewegt sich eine dunkle Gestalt leise schleichend hinter seinem Rücken durch den Raum. Sie erinnert an DEFA-Oberindianer Gojko Miti auf dem Kriegspfad. Der 16-Jährige sitzt eigentlich zusammen mit seinem ähnlich tickenden Kumpel Uwe in der ersten Bankreihe. Da, wo immer jene hocken, die in disziplinarischer Reichweite des Lehrers sein müssen.

Gojko schiebt sich leise bei völliger Dunkelheit an seinen Mitschülern vorbei. Besonders an jenen, die gerne petzen.

Er weiß genau wo der einzige Lichtschalter des Raumes 18 in der Wand klemmt. Dort angekommen, knipst er ihn aus. Dann pirscht er zu seinem Platz zurück. Es ist 7.40 Uhr, die Stunde geht bis 8.15 Uhr.

Blutdruck 200 zu 110 ...

Nach 35 Minuten, einer Mathestunde ohne Qual, kommentiert Lehrer Sauer schließlich mürrisch: "So, es hat geklingelt. Die Stunde ist um ..." Kaum sind diese Worte über seine Lippen gekommen, fasst er sich wie vom Blitz getroffen an den Kopf: "Es hat geklingelt???" Man muss nicht Mathelehrer sein, um zu wissen, dass es dazu Elektrizität braucht. (Die lag nach Behebung des Defektes wieder an, ohne dass die 10b es bemerkte.) Wie von der oberschlesischen Steinkohle-Tarantel gestochen, schießt die Inkarnation einer Respektsperson zum Lichtschalter, der nach Betätigung seinem Namen Ehre macht.

"Weeer-waaaar-das???" donnert Sauer mit einem Gesicht, das einen Blutdruck von 200 zu 110 vermuten lässt.

Er sollte es nie erfahren.

Der 16-jährige Schelm, dieser unterrichtstorpedierende Terrorist, wurde später Elektriker ...