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Unterricht für Asylbewerber Mit 80 Jahren noch einmal vor der Klasse

Viele Asylbewerber, die Calbe zugewiesen werden, haben keinerlei
Grundkenntnisse der deutschen Sprache. Um diese Isolation im Alltag
aufzubrechen, bietet die ehemalige Lehrerin Helga Knauft (80) kurzerhand
regelmäßigen Unterricht an. Dahinter verbirgt sich weit mehr als das
reine Pauken von Vokabeln.

30.03.2015, 17:05

Calbe l Die Sprache ist die Quelle aller Missverständnisse, hat der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry einmal formuliert. Besonders groß sind die Missverständnisse bekanntlich dann, wenn nicht die gleiche Sprache gesprochen wird. Bei den derzeitigen Debatten um die Integration von Asylbewerbern wird im Spracherwerb stets das größte Problem gesehen.

Helga Knauft wollte es nicht beim Problem belassen. Die 80-Jährige hatte in der Volksstimme den Aufruf des Sozialen Netzwerkes Calbe gelesen, bei dem Ehrenamtliche gesucht wurden, die den in der Saalestadt lebenden Asylbewerbern Deutschkenntnisse vermitteln könnten. "Sofort habe ich mich gemeldet", sagt Helga Knauft. In mehr als 40 Jahren unterrichtete die ausgebildete Grundstufenlehrerin ganze Schülergenerationen, unter anderem in der Calbenser Heine-Schule oder noch nach der Wende in der Lessing-Grundschule.

Gemeinwesenkoordinatorin Anne Schüler vermittelte kurzerhand die Räumlichkeiten. Dank des Malteser-Ortsverbandes findet der Deutschkurs seit gut einem Monat in einem Raum im Ärztehaus in der Barbyer Straße statt. Zwei Mal wöchentlich kommt Helga Knauft mit dem Auto zum Unterricht. Viel Unterstützung erhält die Rentnerin von Brigitte Hamm und Jana Lenhart, die während der anderthalbstündigen Unterrichtseinheiten den Asylbewerbern zur Seite stehen, sich um deren Kleinkinder kümmern oder Spielzeugspenden organisieren.

Helga Knauft ist voll des Lobes für ihre erwachsenen Schüler, die aus dem Kosovo, aus Bosnien, Syrien oder Indien kommen. "Ich bin immer wieder erstaunt, wie aufmerksam und wissbegierig sie sind." Sie weiß, dass es nur ein rudimentärer Deutschunterricht sein kann. Die Lernmaterialien sind alles andere als ideal. So sind es beispielsweise reich bebilderte Werbebeilagen von Discountern, mit denen sie ihren Schülern die Grundnahrungsmittel näherbringt. "Wir müssen improvisieren", sagt Helga Knauft und freut sich über gespendete Stifte, Flipcharts oder Blöcke. "Es geht in erster Linie um das persönliche Vorstellen, um Daten und Tageszeiten, ums Einkaufen, Wegbeschreibungen oder den Arztbesuch."

Zehn neue Vokabeln am Tag seien Minimum. Syrern falle es angesichts des ihnen vertrauten arabischen Schriftssystems, bei dem von rechts nach links geschrieben werde, jedoch am schwersten. Doch innerhalb weniger Wochen hätten ihre Schüler, die sich selbständig Aufzeichnungen machen, große Fortschritte gemacht. Doch das ist es auch, was Helga Knauft zunehmend bedrückt.

Beispiel Achmed. Der Syrer ist mit schwangerer Frau und zwei Kindern sowie Schwester Hayat vor dem Bürgerkrieg in der Heimat geflohen. Die Familie hat im Raum der Malteser nicht nur einen Ort zum Lernen kennengelernt sondern auch einen der Vertrautheit. Ihre Tage in Deutschland sind jedoch gezählt. "Binnen eines Monats werden sie nach Bulgarien abgeschoben", sagt Brigitte Hamm und verweist kopfschüttelnd auf ein amtliches Schreiben. Achmed und Familie kommen trotz dieser Nachricht weiter zum Unterricht. Der Grund dafür dürfte ganz offensichtlich nicht nur das Deutschlernen sein. "Die Sprache braucht nicht immer Worte", hat Frankreichs Ex-Präsident François Mitterrand einmal gesagt.