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Einstiger Staßfurter Bürgermeister wurde Opfer eines Mordanschlages Von Johanna Kleemann, Toni-Andreas Matzke und Tobias Hoffmann Vor 80 Jahren: Meuchelmord an Hermann Kasten

04.02.2013, 01:25

Heute vor 80 Jahren trafen den damaligen Staßfurter Bürgermeister Hermann Kasten vor seiner Haustür zwei Schüsse. Einen Tag später erlag er seinen schweren Verletzungen. In Gedenken an Hermann Kasten recherchierten Schüler des Dr.-Frank-Gymnasiums im Rahmen des "Stolpersteinprojektes" die Umstände seines tragischen Todes.

Staßfurt l Am 5. Februar 1933 verstarb der damalige Staßfurter Bürgermeister Hermann Kasten. Am Abend des 4. Februar 1933 - heute vor 80 Jahren, es war ein Sonnabend, kurz nach 22 Uhr - wurde er durch zwei Schüsse eines unbekannten Täters schwer verletzt und erlag am frühen Morgen des Folgetages seinen Verletzungen.

Vorausgegangen waren Ereignisse, von denen die Schönebecker Zeitung in ihrer Ausgabe vom 6. Februar 1933 berichtete: Die "Machtergreifung" Hitlers am 30. Januar 1933 lag erst wenige Tage zurück, als am Sonnabend Nachmittag, dem 4. Februar, ein Propagandaumzug von NSDAP, Stahlhelm und anderen in Staßfurt stattfand. Auf dem Marktplatz soll der Kreisleiter der NSDAP Otto Wieneke bei einer Kundgebung gesagt haben: "Mit diesen saufetten Bonzen der SPD muss Schluss gemacht werden!"

Nach dem Umzug sei es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen, bei denen der Arbeitersamariter Otto Schmidt verletzt wurde. Auf Betreiben Hermann Kastens, der gegen 20 Uhr von einer Landtagssitzung in Berlin nach Staßfurt zurückgekehrt (Kasten war seit 1923 Abgeordneter des preußischen Landtags) und über den Vorfall informiert worden war, wurde der mutmaßliche Täter, der SA-Mann Ernst Oehmig (später Obersturmbannführer), in Polizeigewahrsam genommen.

Nach der Verhandlung des Vorfalls im Rathaus, wo sich der NSDAP-Kreisleiter Wieneke (Leopoldshall) und der NSDAP-Oberführer ("Gruppenstaffelführer Mitte") Max Deventer (Besitzer der Deventer-Werke) für die Freilassung Oehmigs einsetzten, entließ Hermann Kasten Oehmig aus dem Polizeigewahrsam; dieser hatte die Tat bestritten, überdies hatten sich die Verletzungen von Schmidt inzwischen als nicht lebensgefährlich herausgestellt.

Als Hermann Kasten vom Rathaus zu Fuß zu seinem Wohnhaus in der Parkstraße zurückkehrte, wurde er beim Betreten des Grundstücks von zwei Schüssen, die ein bis heute unbekannter Täter aus dem Park heraus abfeuerte, niedergestreckt. Seine Ehefrau und ein Nachbar zogen den Schwerverletzten ins Haus, wo er - so Aufzeichnungen von Kastens Schwiegertochter zufolge - zunächst ohne ärztliche Hilfe blieb.

Schließlich konnte ihn auch eine Notoperation im Leopoldshaller Knappschaftskrankenhaus nicht mehr retten: Hermann Kasten erlag am Sonntagmorgen, dem 5. Februar 1933, gegen 6 Uhr seinen Schussverletzungen.

Als mutmaßlicher Täter wurde bereits am Sonntag ein 17-jähriger Gymnasiast verhaftet, der tags darauf in Magdeburg dem Jugendrichter vorgeführt wurde. Das Verfahren gegen den Schüler, der eine Beteiligung an der Tat bestritt, wurde im März niedergeschlagen; weitere Ermittlungen wurden auf Betreiben von Wieneke, der Kreisleiter der NSDAP Bernburg-Land war, zwecks Deckung der Täter im Juli 1939 eingestellt. Der Mord an Hermann Kasten wurde nie aufgeklärt.

Schon in einem Brief vom 29. Juli 1932, den Deventer an "Herrn Hauptmann a. D. Hermann Göring" nach Berlin schrieb, kam zum Ausdruck, dass Hermann Kasten in Staßfurt als entschiedener Gegner der NSDAP aufgetreten war. Dort hieß es unter anderem: "Der Bürgermeister Kasten der Stadt Staßfurt ist eingeschriebenes Mitglied der S.P.D., hat in Staßfurter Versammlungen der S.P.D. als Redner unsere Bewegung schwer angegriffen und hat [...] seine Polizeigewalt einseitig und zu Gunsten des Reichsbanners ausgeübt." Der letzte Satz des fünfseitigen Briefes lautete: "Der ordnungsliebende Bürger der Städte Staßfurt und Leopoldshall würde es außerordentlich begrüßen, wenn dem roten Bürgermeister Kasten sein Handwerk gelegt wird und [...] ihm die Polizeigewalt entzogen würde."

Eindrücklich belegen auch Vorgänge nach der Ermordung Kastens, dass der am 16. August 1929 in sein Amt eingeführte und um die Stadt hochverdiente Bürgermeister Kasten von den Nazis als politischer Gegner verfolgt wurde (Akten des Landeshauptarchivs in Magdeburg).

Wurde der Regierungspräsident in Magdeburg vom Magistrat der Stadt Staßfurt am 5. Februar 1933 noch über den "Meuchelmord" an Hermann Kasten in Kenntnis gesetzt, so war es nur wenige Monate später, am 29. Juli 1933, derselbe Magistrat, kommissarisch geleitet von Dr. Hans Dellbrügge (Assessor beim Landratsamt in Calbe), der die "Dienstentlassung des früheren Bürgermeisters Kasten in Stassfurt aufgrund des Berufsbeamtengesetzes" beim Preußischen Innenminister beantragte: "Kasten ist am 5.2.1933 ums Leben gekommen. Die Entscheidung wird dennoch beantragt, weil sich diese auf die Hinterbliebenen und Waisen [...] auswirkt."

Und tatsächlich wurde der Witwe Luise Kasten, die nach der Ermordung ihres Mannes wieder in Schönebeck wohnte (dort hatte Hermann Kasten ab 1913 ein Malergeschäft), vom preußischen Innenministerium am 7. September 1933 mitgeteilt: "Wenn der verstorbene Bürgermeister Hermann Kasten am 8. April 1933 noch als Beamter im Dienst gewesen wäre, müsste ich ihn nach Paragraph 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 [...] entlassen."

Der besagte Paragraph bestimmte: "Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden."

Die Regierung in Magdeburg stellte am 8. November 1933 fest: "Die Witwe Kasten hat demnach keinen Versorgungsanspruch." In der Folge dieser Entscheidung konnte beispielsweise der jüngere Sohn Hermann Kastens, der Vater von Bärbel Döring, die heute noch in dem Haus in Schönebeck wohnt, das ihr Großvater erworben hatte, sein Studium nicht fortsetzen.

In der Stadt Staßfurt hatte der Tod Hermann Kastens bei der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Bestürzung hervorgerufen. In der Aula des Reformrealgymnasiums hielt der damalige Schulleiter, Studiendirektor Dr. Heinrich Hawickhorst, am Montag, dem 6. Februar 1933 eine Trauerrede, deren Abschrift Bärbel Döring im Nachlass Ihres Großvaters fand.

Es heißt dort unter anderem: "Eine tiefe Trauer liegt über allen, Erbitterung drängt sich in die Seelen, ein banges Fragen lastet: Ist es wahr, ist es wirklich wahr? Unser Erster Bürgermeister [...] ist tot. - Tot! nicht dahingegangen nach langem Leben, in beschaulichem Greisenalter; nicht in der Frische des Daseins plötzlich dahingerafft durch tückische Krankheit, - sondern gefallen durch feigen Meuchelmord. [...] Trauernd steht eine ganze Stadt und wir mit ihr. Wir wissen, was unermüdliche Schaffenskraft in wenigen Jahren aus unserem verschmutzten, freudlosen Ort gemacht hat, wissen, wie durch ihn Grün und Blumen wuchsen da, wo vorher graues Bretterwerk war. Wir freuten uns der freundlich gewordenen Ufer unserer schwarzen Bode, sahen lichte Wohnungen sich an den Rändern der Stadt erheben. [...] Wir alle werden ihm, den die politisch wirre Zeit dahingerafft hat, allzeit ein ehrendes Andenken bewahren. In einem Vaterlande des Friedens ruhe er in Frieden!"

Dass das "Vaterland des Friedens" damals seit acht Tagen in die Hände von Kriegstreibern gefallen war, mussten auch Lehrer und Schüler des Gymnasiums bald erfahren.

Ein beeindruckendes Zeugnis der Trauer und des Protestes gegen die neuen Machthaber war der Trauerzug für Hermann Kasten. Beatrix Herlemann schrieb 2001 in ihrem Buch über das Widerstandsverhalten der SPD im Parteibezirk Magdeburg-Anhalt: "Am 8. Februar, dem Tage der Beisetzung, legten über 7000 Arbeiter auf Beschluss der Betriebsräte um 12 Uhr die Arbeit nieder, um mit Zehntausenden, die die Straßen säumten, dem Ermordeten das letzte Geleit von Staßfurt nach Schönebeck zu geben. [...] Die Beisetzung auf dem Ostfriedhof in Schönebeck wurde zu einer ersten stummen Widerstandsdemonstration am Grabe eines Ermordeten."

Für Hermann Kasten wird am Freitag, 19. April, um 12 Uhr, ein "Stolperstein" vor seinem einstigen Wohnhaus in Staßfurt, Parkstraße 8, verlegt.