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In ihren beiden Büchern erzählt Grit Poppe die Geschichte aus den Heimeinrichtungen der DDR "Sie wurden behandelt wie Verbrecher"

15.05.2013, 01:20

Die handelnden Personen sind in beiden Büchern zwar fiktiv. Ihre Geschichte ist es aber nicht. Tanja Andrys traf die Autorin Grit Poppe (49) in Potsdam und sprach mit ihr über die Bücher und die Spuren, die die DDR-Heimerziehung bis heute hinterlassen hat.

Volksstimme: Frau Poppe, Sie haben schon einige Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Mit "Weggesperrt" und "Abgehauen" haben Sie sich von Ihrem bisherigen Genre verabschiedet. Warum?

Grit Poppe: Ich wollte nicht immer dasselbe Buch in unterschiedlichen Richtungen schreiben. Ich wollte mich literarisch auch ein wenig austoben.

Volksstimme: Warum ausgerechnet ein Jugendroman über die DDR?

Grit Poppe: Das hat etwas damit zu tun, dass ich in der DDR aufgewachsen bin und auch mit der Staatssicherheit Erfahrungen gemacht habe. Hauptsächlich durch meinen Vater, der über Jahre hinweg observiert wurde. Und das habe ich als Kind und Jugendliche natürlich mitbekommen, wenn die hinter uns hergerannt sind und uns observiert haben. Oder wenn es wieder eine Hausdurchsuchung gab. Verhaftungen gab es auch. Und je mehr ich davon begriffen habe, umso beängstigender wurde das.

"Nach drei Tagen hat die Fliege geantwortet."

Volksstimme: In beiden Büchern beschreiben Sie die schlimmste aller Heimeinrichtungen in der DDR - den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, in dem Kinder und Jugendliche in unmenschlichen Zuständen regelrecht gefangen gehalten wurden. Das war auch zu DDR-Zeiten schon rechtswidrig. Wie waren die ersten Reaktionen auf Ihr Buch?

Grit Poppe: Durchweg positiv. Am Anfang haben es mehr Erwachsene gelesen. Und dann bekam ich viel Post, Briefe, von Leuten, die auch negative Erfahrungen gemacht haben. Auch von Ehemaligen aus dem Jugendwerkhof.

Volksstimme: Sie haben für Ihre Bücher schon eng mit ehemaligen Insassen des Jugendwerkhofes zusammengearbeitet. Wie war das?

Grit Poppe: Unterschiedlich. Einer der Zeitzeugen saß in Torgau bis zum Schluss, hat 1989 sozusagen das Licht ausgemacht. Als ich für mein Buch recherchiert habe, saß der gerade wegen eines Drogenproblems in Haft. Von ihm kamen ziemlich viele Details über die Torgauzeit. Er hat mir zum Beispiel auch von Halluzinationen erzählt, als er damals in Einzelhaft saß, zum Beispiel, dass er in seiner Zelle eine Fliege gehabt hätte, mit der er sich unterhalten hätte. Er sagte, insgesamt hätte der Arrest zwölf Tage gedauert. Nach drei oder vier Tagen hätte die Fliege ihm geantwortet.

"Da hat sie versucht, sich den Arm zu brechen."

Tanja Andrys: Andere Zeitzeugen haben Ähnliches berichtet. Knallharter Erziehungsdrill, zermürbende Einzelhaft und vor allem die Panik in den Dunkelzellen. Wie haben Sie das in Ihren Büchern verarbeitet?

Grit Poppe: Das ist unterschiedlich. Ich habe viele Gespräche mit vielen Zeitzeugen geführt. Daraus habe ich versucht, die Figuren Anja und Gonzo zu entwickeln. Es stecken also viele reale Biographien in den fiktiven Hauptpersonen. Eine Geschichte, die mir sehr nah gegangen ist, war von einer Ehemaligen, die bis 1988 in Torgau war. Sie hat mir erzählt, dass sie bei manchen Arbeiten ein wenig geschummelt hat. Das kam dann aber schnell raus. Dafür kam sie zwölf Tage in den Einzelarrest. Weil sie das nicht ausgehalten hat und aus dieser Zelle raus wollte, hat sie dann versucht, sich den Arm zu brechen. Sie ist dann auch ins Krankenhaus gekommen.

Volksstimme: Darauf haben ja damals viele gehofft. Man hört oft davon, dass Jugendliche sich selbst verletzt haben, um ins Krankenhaus zu kommen und dem Torgauer Alltag zu entfliehen.

Grit Poppe: Genau. Einige haben sogar Säure getrunken oder Nägel verschluckt in der Hoffnung, sie kommen dann ins Krankenhaus. Sie haben sich davon erhofft, fliehen zu können. Das habe ich im Buch verarbeitet. Anja und Gonzo nutzen die Chance, als sie im Krankenhaus sind und fliehen. Das klappte in der Realität natürlich nicht. Die Jugendlichen wurden streng bewacht. Es saß immer ein Erzieher vor Tür, wie bei einem Verbrecher.

Volksstimme: Wie legen die Ehemaligen heute mit ihrer Vergangenheit? Welche Erfahrungen haben Sie?

Grit Poppe: Unterschiedlich. Einige haben den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt und erzählen das Erlebte. Andere schweigen bis heute. Aus Angst und vor allem aus Scham, ein Heimkind gewesen zu sein.