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Die Eskalation einer Lesung zu DDR-Unrecht an der Comenius-Schule wird bundesweit bekannt "Ablenken, Ausweichen, Beschwichtigen"

Im deutschen Bildungsbürgertum macht Stendal in diesen Tagen
Schlagzeilen. "Die sind alle noch da" titelte die renommierte
Wochenzeitung "Die Zeit". Autor Roman Grafe berichtet dort von seiner
Lesung in der Comenius-Schule zur DDR-Diktatur und schildert, wie eine
Lehrerin diese verklärte. Die Schulaufsicht bemüht sich jetzt um
Schadensbegrenzung.

30.01.2014, 01:29

Stendal l Seit elf Jahren liest Roman Grafe aus seinen Büchern zur DDR-Geschichte. Mehr als 400 Mal hat er in Schulen in ganz Deutschland gelesen, sagt er der Volksstimme. Seine Geschichte in der "Zeit" beginnt so: "Dabei erlebe ich noch immer, dass Lehrer ungeniert die SED-Diktatur verklären. Was sich kürzlich bei einer Lesung an der Comenius-Schule in Stendal ereignete, war in dieser Verdichtung eine Ausnahme - und doch steht es exemplarisch für den Umgang mit der jüngeren Vergangenheit an vielen Schulen in Ostdeutschland."

"Ihr Vortrag war nicht objektiv, Herr Grafe." - Eine Lehrerin laut "Die Zeit"

Der 45-Jährige liest den Schülern aus seinem Buch "Die Grenze durch Deutschland" vor, schildert die Repressalien nach gescheiterten Fluchtversuchen, spricht über aus politischen Gründen Inhaftierte, Menschenrechtsverletzungen im Alltag und den Schießbefehl an der Mauer. Er thematisiert die Rollen von Tätern, Mitläufern und Verweigerern. Es ist nicht sein erster Auftritt in Stendal. Grafe erinnert sich an fünf Lesungen vor Schülern. Eine weitere dürfte in die Annalen der Stadt eingehen: Kurz vor der Oberbürgermeisterwahl 2008 beschrieb Grafe bei einer Lesung im Rathaus die Rolle des damals noch parteilosen Bewerbers Klaus Schmotz (heute CDU) bei den Grenztruppen.

Grafe liest an diesem 20.November 2013 vor zwei Schülergruppen der Sekundarschule. Die Schüler seien jeweils aufmerksam gewesen, hätten Fragen gestellt. Bei der zweiten der von der Landeszentrale für politische Bildung finanzierten Lesung habe ihn eine ältere Lehrerin gleich zu Beginn jedoch gefragt, ob er "die DDR dunkel darstellen" wolle. Den Autor, der im Januar 1989 die DDR verließ, machen diese Worte hellhörig. Er legt Stift und Zettel parat, um sich diese und gegebenenfalls weitere Äußerungen zu notieren.

In der "Zeit" schildert Grafe, was passierte, als fünf Minuten vor dem Ende der Schulstunde sich die ältere Lehrerin wieder zu Wort meldet: ",Ihr Vortrag war nicht objektiv, Herr Grafe. Sie haben nur subjektiv berichtet.\' Und an die Schüler gewandt: ,Fragt doch heute mal eure Eltern, wie es wirklich in der DDR war!\' Ob sie ihren Vorwurf belegen könne, frage ich. ,Ja. Ich habe mich wohlgefühlt in der DDR\', lautet ihr Argument. ,Auch unser Besuch aus Hamburg kam jedes Jahr gern nach Stendal. Und Sie haben heute die DDR schlechtgemacht. Wenn man sich in Diktaturen an die Regeln hält, passiert einem nichts. Ich frage mich, warum Sie wieder hergekommen sind, wenn Sie Stendal nur schlechtmachen.\'"

Grafe kontert: "Ich bin wieder nach Stendal gekommen, um Ihren Schülern das zu sagen, was Sie verschweigen." Dann diskutiert er noch kurz weiter mit den Schülern. An die letzten Worte der Lehrerin erinnert er sich in seinem Artikel noch - "in Bayern hätten Sie nicht auf dem Tisch sitzen dürfen".

Roman Grafe will diese Stunde nicht so stehen lassen. Er spricht mit Schulleiterin Heidemarie Henning. Die entschuldigt sich dafür, dass sie nicht bei der Lesung dabei sein konnte. Nicht jedoch für die Äußerungen ihrer Kollegin, verspricht aber "dem nachzugehen", wie sich Grafe notiert hat.

"Ich sage das, was Sie verschweigen." - Autor Roman Grafe

Zwei Tage später folgt ein erstes von drei Telefonaten, berichtet Grafe. "Es tue ihr ein bisschen Leid. Das Ende sei "nicht prickelnd" gewesen. Eine "merkwürdige Formulierung" findet der Schriftsteller. Zudem solle er beachten, dass "in der DDR nicht alles schlecht gewesen sei", hat Grafe noch protokolliert.

"Ablenken, Ausweichen, Beschwichtigen", kritisiert er das Verhalten der Schulleitung. Die von ihm erwartete Klarstellung der Lehrerin gibt es auch am 27. November bei einem weiteren Telefonat nicht. Grafe erwartet jetzt, dass die Lehrerin "gegenüber den Schülern und mir schriftlich klarstellt, was sie mit ihren Äußerungen nach meiner Lesung ausdrücken wollte", wie er es in einer Mail formuliert und mit sechs Unterpunkten versieht. Die Schüler sollten die Klarstellung in Kopie erhalten, "auch damit es verbindlich ist und die Eltern im Wortlaut erfahren", wie die Lehrerin "ihre diktaturfreundlichen Äußerungen verstanden beziehungsweise korrigiert sehen möchte".

Henning habe ihm eine "gründliche Auswertung" versprochen und angekündigt, der Lehrerin "diesen Weg vorzuschlagen". Doch zu der von Grafe geforderten "Klarstellung im Interesse einer Erziehung der Schüler zur Demokratie" kommt es nicht. Beim dritten Telefonat am 11. Dezember spricht die Schulleiterin von "einer persönlichen Meinungsäußerung" und "Meinungsäußerung ist ja in der Demokratie nicht verboten". Grafes Ankündigung, nunmehr den Fall öffentlich zu machen, kommentiert sie nach dessen Aufzeichnungen mit "Dann werden bestimmte Dinge nicht mehr stattfinden". Ob er dies so verstehen soll, dass er dann an der Schule nicht mehr lesen dürfe, fragt der Schriftsteller nach. Die Schulleiterin bejaht.

Heidemarie Henning sieht die Auseinandersetzung etwas anders. "Ein klärendes Gespräch hätte ich mir gewünscht. Es ist nicht zustande gekommen. Daher habe ich entschieden, dass es keine weiteren Lesungen mit Herrn Grafe geben sollte." Die Schulleiterin bemerkt, dass "Herr Grafe von Anfang an drohte, die Öffentlichkeit zu informieren". Sie hätte es dagegen befürwortet, wenn er das Gespräch mit ihrer Kollegin gesucht hätte. "Ich bin da als Vermittlerin aufgetreten."

"Klärendes Gespräch hätte ich gewünscht." - Schulleiterin Heidemarie Henning

Detailliert möchte die Schulleiterin den Umgang der Schule mit dem Vorfall nicht öffentlich machen. "Wir haben dies mit den Lehrkräften und Schülern geklärt." Ob und welche Konsequenzen es gegeben hat oder wird, lässt sie offen. "Wir verklären hier nichts, sondern haben uns der Aufgabe gestellt und uns geöffnet", sagt sie mit Blick auf den Umgang mit dem Thema DDR-Vergangenheit. Ob die Aussagen der Lehrerin so stehen bleiben sollen - dazu mag sie sich nicht äußern.

Der "Zeit"-Artikel hat Wellen geschlagen. "Unmittelbar nach den Winterferien soll es ein Gespräch geben, an dem Vertreter des Landesschulamtes, der Landeszentrale für politische Bildung und der Schule teilnehmen und bei dem der weitere Umgang mit dem Sachverhalt und der Thematik insgesamt zur Sprache kommen wird", kündigt das Kultusministerium an.

Dort sieht man die Zeitzeugengespräche als "wichtige Ergänzung" zum "normalen" Geschichtsunterricht: "Hier kann Geschichte noch einmal ganz anders wahrgenommen und sehr anschaulich werden." Dass die Schule auf das Angebot der Lesung eingegangen sei, "zeigt das Interesse, sich dem Thema zu stellen und sich mit der DDR-Vergangenheit auseinanderzusetzen", heißt es aus dem Ministerium.