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Wolfgang Seguin über die Fußball-WM 1974 "Politik hat uns nicht interessiert"

Am morgigen Sonntag jährt sich der Tag des berühmten WM-Spiels zwischen der DDR und der BRD zum 40. Mal. Der heute in Stendal lebende Wolfgang Seguin gehörte zum WM-Kader der DDR. Bernd-Volker Brahms sprach mit ihm.

21.06.2014, 10:16

Volksstimme: Herr Seguin, vor 40 Jahren fand bei der WM 1974 das berühmte Spiel DDR gegen BRD statt ...
Wolfgang Seguin: ... und ich konnte leider nicht mitspielen. Ich war das erste Mal in meiner Karriere verletzt, ich hatte ein dickes Ei in der Wade. Ich hatte mir die Verletzung im Europapokalendspiel zugezogen, kurz vor Schluss.

Bei dem legendären Spiel haben Sie ja das 2:0 für den 1.FC Magdeburg geschossen. Das Spiel war ja kurz vor der WM. Sie müssen sich ja gefühlt haben, wie derzeit Marco Reus, der sich ja auch kurz vor der WM verletzte.
So etwas tut richtig weh. Ich hatte ja vorher die WM-Qualifikationsspiele fast alle gespielt und war in einer sehr guten Form bis zur Verletzung. Ich habe ja noch alles versucht, um wieder fit zu werden. Gleich nach dem Europapokalspiel ging es für uns vier Magdeburger Nationalspieler zum WM-Vorbereitungslager nach Schweden. Dort saß ich zehn Tage nur rum, es passierte nichts. An Trainieren war für mich überhaupt nicht zu denken. Es gab ja nicht diese medizinische Betreuung, wie es sie heute gibt. Ich bin dann auf eigenen Faust zu einer Art Knochenbrecher gegangen. Als das herauskam, habe ich einigen Ärger bekommen.

Aber wie kam es dann, dass Sie doch mit zur WM gefahren sind?
Ich habe die Zähne zusammengebissen, wir haben dann ja in Kienbaum noch etwas trainiert. Ich habe gesagt, dass ich wieder fit bin, obwohl ich starke Schmerzen hatte. Die Trainer haben mich dann einem Belastungstest unterzogen, ich musste dreieinhalb Stunden auf einem Bein springen. Was für ein Wahnsinn, wenn man sich das überlegt. Wie bescheuert das war.

Und Sie haben dann ja auch noch ihren WM-Einsatz bekommen, im zweiten Gruppenspiel gegen Chile.
Ja, 72 Minuten habe ich durchgehalten. Dann ging nichts mehr. Es schmerzte mit jedem Schritt.

War Ihnen da klar, dass die WM gelaufen ist?
Ja, definitiv.

Dann kam ja noch das Spiel gegen die Bundesrepublik, ein ganz besonderes. Es sollte ja das einzige Länderspiel bleiben, das jemals zwischen der DDR und der BRD ausgetragen wurde. Es war ja schon politisch aufgeladen, wie haben Sie das von außen empfunden?
Es wurde ein Politikum daraus gemacht. Uns Spieler hat das aber überhaupt nicht interessiert, wir haben uns gar nicht damit beschäftigt, was außen herum passierte. Die Mannschaft ist mit dem Gedanken ins Spiel gegangen, dass sie nichts verlieren kann. Wir waren taktisch vielleicht nicht so gut wie die Spieler der Bundesrepublik, aber wir konnten laufen. Der Druck lag bei ihnen. Am Ende hätten wir sogar 2:0 gewinnen können. Wir hatten ja noch einige Chancen.

Aber Jürgen Sparwasser, der das einzige Tor erzielt hatte und den Sieg für die DDR besiegelte, wurde schon vereinnahmt.
Jürgen erzählt ja immer wieder, dass auf seinem Grabstein nur zu stehen brauche: Hamburg 1:0. Jeder wisse dann, wer da begraben liegt. Immer wenn wir Spieler zusammenkommen, kommt die Geschichte wieder hervor.

Jürgen Sparwasser hat schon öfter erzählt, dass das Tor für ihn der "Anfang vom Ende" war, dass man ihm seine Karriere an der Uni verbaut hat, nachdem er nicht Trainer beim 1.FC Magdeburg werden wollte. Letztlich habe die Gesamtsituation 1988 zu seiner Flucht in den Westen geführt.
Das ist seine Geschichte. Er ist neben Manfred Zapf mein zweitbester Freund, wir drei haben ab 1965 in Magdeburg im blauen Bock im elften Stock jeweils in einer Einraumwohnung gewohnt, alle nebeneinander. Wir treffen uns mindestens einmal im Jahr, die gesamte Magdeburger Europapokal-Mannschaft. Das ist eine Kameradschaft, wie es sie kaum noch gibt.

Was für ein Verhältnis hatten sie zu den Spielern aus dem anderen Teil Deutschlands?
Wir hatten gar keins. Wir haben die Spieler ja erst kurz vor dem Anpfiff gesehen. Und nach dem Spiel sind wir dann in unser Quartier nach Quickborn zurückgefahren. Wir konnten uns im Übrigen völlig frei bewegen, es gab keine Aufpasser. Das war auch schon 1972 bei den Olympischen Spielen so, da sind wir abends auch schon mal unterwegs gewesen.

Gab es nach der WM eigentlich eine Ehrung, hat Ihnen Honecker die Hand geschüttelt?
Nein, Honecker nicht, aber es gab in Berlin eine Ehrung. Da war auf jeden Fall der Manfred Ewald, der Präsident des Deutschen Turn- und Sportbundes. Wir sollten dann unsere Prämie dort im Intershop ausgeben, damit das Geld im Land bleibt. Die meisten von uns hatten es aber schon vorher während der WM in der Bundesrepublik ausgegeben.

Wie viel gab es denn?
Das waren glaube ich 1000D-Mark pro Punkt, wenn man dabei war. Für unseren Europapokalsieg haben wir übrigens 5000Mark bekommen, hätten die Mailänder gewonnen, hätten die 160000 D-Mark bekommen.

Haben Sie eigentlich selbst auch mal an Flucht gedacht, wie dann Jürgen Sparwasser?
Nein, ich hatte ohnehin nur einmal ein Angebot eines ausländischen Vereins. Das war 1965 am Anfang meiner Karriere, da wurde ich von einem Verein in Luxemburg angesprochen. Das kam überhaupt nicht in Frage.

Wurden Sie 1974 besonders kontrolliert?
Man musste als Spieler schon aufpassen, was man sagte. Es hat ja Nationalspieler gegeben, die wurden kurz vor dem Abflug noch quasi aus dem Flugzeug wieder herausgeholt, weil man dachte, die hauen ab. Den Verantwortlichen war am liebsten, dass man verheiratet war und ein Kind hat. Ich bin mit 26 Jahren übrigens in die Partei eingetreten, so wie es fast alle gemacht haben. Ich habe es 1971 gemacht, im Hinblick auf die Olympischen Spiele ein Jahr später in München.

Haben Sie sich eigentlich mal ihre Stasi-Akte angesehen?
Nein, das wollte ich mir nie antun. Ich habe mir die Kaderakte vom Fußball-Club besorgt, dass hat mir völlig gereicht. Das ist wie ein Krimi. Ich war völlig überrascht, was die alles gewusst haben. Ich habe regelmäßig in einem kleinen Laden eingekauft und habe als Fußballer auch mal etwas zugesteckt bekommen. Die Sportführung wussten nachher, was ich in der Tüte hatte.

Das 74er-WM-Trikot von Jürgen Sparwasser hängt im Historischen Museum in Bonn, haben sie Ihrs noch?
Nein, das habe ich wie andere Trikots auch, mal verschenkt. Im Übrigen bekomme ich vom DFB zu jeder WM das aktuelle deutsche Trikot geschickt, Auch zu Länderspielen werden wir eingeladen. Da treffe ich auch Spieler der 74er-Spieler der Bundesrepublik, wir haben uns ja erst später kennengelernt.