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Briefwahl-Skandal Abstimmung in eigener Sache

Der Fälschungs-Skandal bei der Stendaler Briefwahl erreicht jetzt auch
den Kreistag. Die Fraktion Linke/Grüne will klären, ob CDU-Fraktionschef
Wolfgang Kühnel bei der Bestätigung der Wahl überhaupt mit abstimmen
durfte. Falls nicht, war der Beschluss ungültig. Mögliche Konsequenz:
Eine komplette Neuwahl.

03.12.2014, 01:11

Stendal l "Der Umschlag liegt bei mir ungeöffnet im Tresor", erklärte Landrat Carsten Wulfänger (CDU) am 3. Juli vor dem Kreistag. Sein Inhalt: Die Namen von zwölf Bevollmächtigten, die für die Briefwahl zum Stendaler Stadtrat und Kreistag 189 Vollmachten eingereicht hatten - erlaubt gewesen wären maximal 48.

Hätte der Landrat den Umschlag geöffnet, wäre er auf einen bekannten Namen gestoßen: CDU-Kreispartei- und Fraktionsvorsitzender Wolfgang Kühnel gehört zu dem Dutzend, das für den CDU-Stadtratskandidaten Holger Gebhardt Vollmachten einreichte und die Stimmzettel für die Stadtrats- und Kreistagswahl erhielt.

Der Landrat öffnete den Umschlag jedoch nicht, "weil aus meiner Sicht das Wahlgeheimnis und der Datenschutz eine Rolle spielt", erläuterte er vor dem Kreistag.

Diese Einschätzung dürfte jetzt nicht ohne Folgen bleiben: Die Kreistagsfraktion Linke/Grüne bereitet für den nächsten Kreistag einen Prüfauftrag vor. Unter anderem will die zweitstärkste Kreistagsfraktion von der Kommunalaufsicht von Kreis und Land geklärt wissen, ob unter diesen Umständen Wolfgang Kühnel überhaupt über die Gültigkeit der Wahl hätte mit abstimmen dürfen.

Hätte er dies nicht tun dürfen, ist der Beschluss ungültig und könnte zur kompletten Neuwahl führen (siehe Artikel "Wie geht es jetzt weiter?").

Die Bevollmächtigten kannten nur wenige

Die Personalie ist pikant: Dass Wolfgang Kühnel einer der zwölf Bevollmächtigten war, wussten zum damaligen Zeitpunkt erst wenige. In jedem Fall Kühnel selbst und Stadtwahlleiter Axel Kleefeldt. Kleefeldt bestätigte gestern, dass das Rathaus dem Kreiswahlleiter die Liste mit den zwölf Namen in einem verschlossenen Umschlag überreicht habe. Kühnels Name sei in Gesprächen nicht gefallen. Landrat Carsten Wulfänger war gestern zu auswärtigen Terminen. So konnte sein Büro nichts zur Volksstimme-Frage in Erfahrung bringen, wann und von wem er erfahren hat, dass der CDU-Chef auf der Zwölfer-Liste steht.

Wolfgang Kühnel hatte in jener Sitzung im Juli kein Wort über seine eigene Beteiligung verloren, vielmehr aber heftige Kritik an Stadtwahlleiter Kleefeldt geäußert: "Vom Wahlleiter sich hinzustellen und zu sagen, er hat dafür überhaupt keine Verantwortung, ist unmöglich." Für die zwölf Bevollmächtigten brach Kühnel hingegen eine Lanze: "Man kann sie nicht unter Verdacht stellen, dass sie bewusst das Gesetz gebrochen haben."

Kreiswahlleiter Wulfänger kam jedenfalls nach einer persönlichen Sichtung der fraglichen Briefwahlunterlagen zu dem Schluss, dass "eine Verfälschung des Wählerwillens nicht erkennbar" sei. Kühnel assistierte: "Es ist alles getan worden. Was will man da noch aufklären?"

Inzwischen sieht da die Situation ganz anders aus...

Bei den Grünen hätte es anders kommen können

Keine 24 Stunden nach der Bestätigung des Wahlergebnisses durch den Kreistag lag damals eine Expertise des Landeswahlleiters vor, die den unstrittigen Verstoß gegen die Kommunalwahlordnung etwas anders bewertet: "Bei der Prüfung der Erheblichkeit eines Wahlfehlers ist darauf abzustellen, ob ohne diesen ein ,wesentlich anderes Wahlergebnis` zustande gekommen oder festgestellt worden wäre. Ein wesentlicher Einfluss auf das Wahlergebnis liegt nur vor, wenn die Sitzverteilung in der neuen Vertretung ohne die vorgekommenen Wahlverstöße anders ausgefallen wäre oder hätte ausfallen können."

In der Tat hätte das Ergebnis theoretisch anders ausfallen können - bei den Grünen etwa hatte im Wahlbereich Stendal Sylvia Gohsrich nur ganze 30 Stimmen Vorsprung vor Maik Kolloch. Hingegen würde sich selbst bei einem Abzug der rund 500 Stimmen bei den Christdemokraten nichts ändern - weder an den 20 Sitzen der CDU noch an deren Verteilung auf die drei Wahlbereiche beziehungsweise an der Rangfolge ihrer gewählten Kandidaten.

Kühnel und Güssau dürften profitiert haben

Aufschlussreich ist auch ein Blick auf die Verteilung der Briefwahlstimmen. Holger Gebhardt hatte bei der Stadtratswahl 689 Stimmen per Brief erhalten. Für den Kreistag kandidierte er nicht. Da die CDU in Stadt und Kreis vergleichbar abgeschnitten hat, dürften die Stimmen bei Parteifreunden gelandet sein. Zwei Ergebnisse ragen hier heraus: Wolfgang Kühnel erhielt 515 seiner 1846 Stimmen per Briefwahl, bei Hardy Peter Güssau waren es 646 seiner 2235. Zum Vergleich: Stendals Oberbürgermeister Klaus Schmotz erreichte als wohl bekanntester Kandidat auf der CDU-Kreistagsliste mit 3485 Stimmen eindeutig das beste Ergebnis seiner Partei im Wahlbereich Stendal, davon jedoch anteilsmäßig wenige 598 per Briefwahl.

Überdies bemerkenswert: Bei der Stadtratswahl am 25. Mai kam Hardy Peter Güssau mit 2826 auf deutlich mehr Stimmen als seine 2235 bei der Kreistagswahl, beim Stadtrat wählten ihn mit 339 jedoch weitaus weniger per Brief als jene 689 bei der Kreistagswahl.

Das sind zumindest deutliche Indizien, wo die Gebhardt-Stimmen bei der Kreistagswahl gelandet sein könnten. Die Frage, wer hier möglicherweise nachgeholfen hat, beantwortet es indes nicht.

Landeswahlleiter: Chance der Neuaufstellung

Die Aufarbeitung der Wahlfälschungsvorwürfe erreicht mit dem Linken-Vorstoß eine neue Facette: Auch die Kreistagswahl rückt jetzt wieder ins Blickfeld.

Der jetzt aus seinem Amt geschiedene Landeswahlleiter Ulf Gundlach (CDU) hatte sich am Freitag allgemein gegenüber der Nachrichtenagentur dpa zur Situation um die Stendaler Stadtratswahl geäußert. "Nach seinen bisherigen Kenntnissen sei aber eine Wiederholung auch eine Chance, dass sich die Parteien neu aufstellen und die Wähler dann neu entscheiden könnten", heißt es bei dpa.

Die Situation im Kreistag dürfte sich da jetzt vom Stadtrat kaum mehr unterscheiden.