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Die Verhaltensweisen der Tiere Küken wählen oft die falsche Mutter

Von Wolfgang Lippert 12.03.2009, 05:06

Altmark. Zahlreiche Pflanzen und Tiere haben in der Altmark ihr Zuhause. Viele von uns kennen aber nicht einmal mehr die Namen der einzelnen Arten. Deshalb bringt der Diplombiologe Wolfgang Lippert dem Leser in verschiedenen Episoden die heimische Flora und Fauna näher. Heute berichtet er, was es mit den Verhaltensweisen auf sich hat.

Früher lernten wir im Biologie-Unterricht, in stiller Ehrerbietung vor dem hervorragenden russischen Forscher Pawlow, etwas über Reflexe, die sogenannten " Reiz-Reaktionen ". Sie erklären wie schnell, oft viel schneller, als uns bewusst wird, Tiere, aber auch wir Menschen reagieren. So ziehen wir unsere Hand schneller von der heißen Ofenplatte weg, als uns bewusst wird, noch ehe uns der Geruch von verbranntem Menschenfleisch in die Nase steigt. Reflexe sind also Schutz-Mechanismen, die über das Rückenmark gesteuert werden. Dazu sind kurze Wege nötig, und deshalb laufen die Reizleitungen nicht erst über das Gehirn.

Dass Tiere Warnlaute von sich geben und dann reflexartig flüchten, diese Erfahrung haben gewiss alle schon einmal gemacht. Ursprünglich glaubte die Wissenschaft deshalb auch, dass Tierverständigung in Form von Reflexketten ablaufen würde. Aber man erkannte bald, dass da noch andere Mechanismen des Zentralnervensystems im Tierverhalten sein müssen, die sich mit Reflexketten nicht erklären lassen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Tiere völlig spontan weglaufen oder auffliegen. Wo liegt da die Motivation für ein solches Verhalten ?

Man kann nicht alles mit Hunger oder Flucht begründen. Wo müssen wir das Zentrum dafür suchen, wo befi ndet sich das Motiv für dieses spontane Handeln ? Schließlich sind Tiere soziale Wesen und brauchen für die Verständigung untereinander Ausdrucksgesten und eine Lautgebung. Das alles ist nur im Gehirn, dem Zentralnervensystem, zu suchen.

Konrad Lorenz, Begründer der wissenschaftlichen Verhaltensforschung, der dafür den Nobel-Preis erhielt, fand heraus, dass angeborenes Verhalten über das Gehirn gesteuert wird. Tieren ist angeboren, auf bestimmte Schlüsselreize richtig zu reagieren. Lorenz nannte das den " angeborenen Auslöse-Mechanismus " ( AAM ), der auf den Schlüsselreiz reagiert.

Wie oft ist es mir auf dem Schelldorfer See passiert, dass ich mit meinem Ruderkahn an einem Nest mit frisch geschlüpften Enten-, Gänse- oder Blesshuhn-K üken vorbeigefahren bin, und dann hatte ich plötzlich, ehe ich es bemerkte, eine Schar Küken im Schlepp. Was habe ich rudern müssen, um die kleine Schar loszuwerden, damit sich die Mutter wieder um sie kümmern konnte.

Was war da geschehen ? Frisch geschlüpften Nestflüchter-Küken ist angeboren, allem zu folgen was sich von ihnen wegbewegt. Solche Küken haben nämlich in den ersten 24 Stunden ihres Lebens eine sogenannte " sensible Phase ", in der sie auf die Mutter und die Art geprägt werden. In der Regel ist das immer die Mutter, kein anderes Tier oder ein Mensch im Ruderkahn wie ich. Die Küken hatten also zu dem Zeitpunkt nach dem Schlupf ihre Mutter noch nicht kennengelernt. Dieses Kennenlernen funktioniert über den AAM und den Schlüsselreiz. Besonders wichtig ist, dass jedes Küken auf die eigene Art geprägt wird.

Nesthocker haben für die Prägungsphase viel mehr Zeit. Bei ihnen währt diese Prägung die gesamte Nestlings-Zeit. So lange sie noch blind sind, ist der Auslöser fürs Sperren beim Füttern die Erschütterung des Nestes durch den herankommenden Altvogel.

Wenn der Nestflüchter geprägt ist, folgen weitere solcher Mechanismen für die heranwachsende Küken.

Gewiss werden manche es schon beobachtet haben, wenn eine führende Glucke immer und immer wieder vor ihren Küken bestimmte kükengerechte Nahrung hinlegt und dabei bestimmte " Locktöne " äußert. Denn auch die richtige Nahrung will erkannt und aufgepickt werden. Das wird tagelang wiederholt, bis die Küken es gelernt haben.

Dieser Begriffs-Mechanismus AAM und Schlüsselreiz ist so vielfältig, wie es Arten auf der Erde gibt. Er wirkt vor allem beim Fortpflanzungsverhalten, um Bastarde zu vermeiden. " Dass Ausnahmen die Regel bestätigen ", ist heute längst bekannt. Denn es passiert, dass ein Weibchen, aus welchen Gründen auch immer, Eier in ein Nest einer anderen Art legt. Daraus schlüpfende Küken sind dann auf eine andere Art fehlgeprägt und wachsen gemeinsam mit den Küken dieser Art auf.

Vor wenigen Wochen habe ich an der Elbe bei Tangermünde Bastarde von " Kanadagans mal Graugans " gesehen, die gewiss ursprünglich aus solchen " verlegten Eiern " und fehlgeprägten Eltern hervorgegangen sind. Nachkommen solcher Kreuzungen sind aber meist nicht fortpfl anzungsfähig. Hieraus kann also kein weiterer Art-Mischmasch entstehen.

Makaber wird es, wenn Menschen vermenschlicht Tierverhalten erforschen : Da gab es einen selbsternannten Tierschützer, der die Meinung vertrat, dass alle Tiere miteinander friedlich zusammenleben könnten, man müsse sie nur jung genug aneinander gewöhnen. Um das zu beweisen, hat er einen jungen Sperber und eine junge Amsel zusammen aufgezogen und sie auch zusammen in einer Voliere gehalten. Beide wurden immer mit ausreichend Futter versorgt, so dass der Sperber aus Hunger die Amsel nicht töten brauchte. Das ging auch eine ganze Zeit gut, bis eines Tages Amsel und Sperber nebeneinander auf dem Ast saßen und die Amsel vom Sperber wegflog. Für den Sperber war der flüchtende Vogel der Schlüsselreiz, und der angeborene Auslöse-Mechanismus im Greifvogel lief nun automatisch ab, in diesem Fall, ab einem bestimmten Alter, alles zu ergreifen, was sich von ihm wegbewegt. Er stürzte plötzlich hinterher, ergriff die Amsel und erbeutete sie, obwohl er satt war. So nahm das Experiment eines Möchtegern-Tierschützer ein jähes Ende, nur weil er naturwissenschaftliche Grundsätze nicht wahrhaben wollte. Leider gibt es diese vermenschlichenden Tier-Psychopathen noch immer, was das Beispiel " in Freiheit entlassener " Pelztiere beweist.