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Zwei Frauen erzählen, warum sie ihrer russischen Heimat den Rücken kehrten "Hier ist alles schön sauber und ruhig"

Von Gudrun Billowie 04.01.2012, 05:23

Gerade wurde an der Kreisvolkshochschule ein Integrationskurs für Ausländer beendet. In wenigen Tagen bekommen die Teilnehmer ihre Zertifikate. Was treibt Menschen, ihre Heimat zu verlassen?

Wolmirstedt l Irina Zimin und Jelena Simakowa gehören zu den Teilnehmerinnen des Integrationskurses. Neun Monate lang lernten sie viel über Grammatik und Politik. "Es hat Spaß gemacht", sagen beide, und sind bereit zu erzählen, was sie bewogen hat, einst ihrer Heimat auf immer und ewig den Rücken zu kehren.

Das Wohnzimmer von Jelena Simakowa ist gemütlich. "Sehen Sie mal, welche Aussicht ich habe", strahlt sie und zeigt gen Süden über Wolmirstedts Dächer. Es gibt Apfelkuchen, Tee und eine Schale mit russischem Konfekt. So viel Luxus hat es im Leben der beiden Frauen nicht immer gegeben. Und doch, es ging ihnen beim Weggehen nicht in erster Linie um sich. Es sind zwei Mütter, die rissen ihre Wurzeln für die Zukunft ihrer Kinder heraus.

Manchmal gab es nur Brot und Salz

"Es gab keine Perspektive für uns und keine Perspektive für die Kinder", sagt Irina Zimin. Sie lebte in Russland fernab einer großen Stadt und arbeitete als Kinderpflegerin. "Ich bekam kein Geld für meine Arbeit", erinnert sich die 44-Jährige, "wir hatten manchmal kaum etwas zu essen". Ganz zu schweigen von den Bildungschancen der Kinder. "Man muss alles bezahlen", sagt sie, "das konnten wir nicht".

Was die Eheleute Zimin und ihre beiden Kinder einigermaßen über die Runden brachte, war eine große Haustierhaltung. "Wir hatten viele Tiere, haben geschlachtet und das Fleisch verkauft", erzählt Irina Zimin. Doch selbst wenn ein bisschen Geld in die Haushaltskasse kam, so gab es noch nicht einmal Gelegenheit, das auch auszugeben. Lebensmittel waren kaum aufzutreiben. "In den Geschäften gab es oft nur Brot und Salz."

Die Zimins lebten leidlich von ihrem großen Garten. Trotzdem, es reichte hinten und vorne nicht, und die Umgebung war auch nicht schön. "Außerhalb der Städte ist alles kaputt. Die Leute trinken viel", erinnert sie sich. Vor sieben Jahren fassten sich die Zimins ein Herz und wagten den Schritt nach Deutschland. Die ganze Familie ging, und niemand hat es bisher bereut. "Ich habe hier alles, was ich brauche", sagt Irina Zimin. Dabei war ihr erster Eindruck ein seltsamer. "Wir fuhren auf der Autobahn, und links und rechts waren große Wände. Ich dachte, warum bauen die denn hier alles zu? In Russland ist alles so weit." Inzwischen hat sie den Lärmschutz schätzen gelernt. "Hier ist alles schön ruhig."

Für die Kinder war es anfangs nicht leicht. Die Tochter war zehn, der Sohn 18 Jahre alt. "Meine Tochter kam jeden Tag aus der Schule und hat geweint, weil sie nichts verstanden hat", erzählt Irina Zimin. Inzwischen spricht das Mädchen perfekt Deutsch, macht in wenigen Monaten ihr Abitur. Auch der Sohn hat eine Ausbildung gemacht, Arbeit gefunden und ist längst Vater von Zwillingen.

Das pure Leben in Russland braucht viel Energie

Jelena Simakowa kam vor zehn Jahren aus Kaliningrad hierher. "Niemand geht ohne Not" stellt sie klar. "Mein Sohn war damals in der zehnten Klasse, und wir hätten niemals Geld für die Universität gehabt."

Jelena Simakowa hatte Arbeit, war Ingenieurin in einem Waggonbaubetrieb, bekam sogar Lohn. Und dennoch. "Mein Mann war behindert", erzählt sie, "ich habe alleine verdient". Damit kamen sie vorn und hinten nicht zurecht. Doch es kam noch schlimmer, denn in Russland muss man Operationen selbst bezahlen, und ihr Mann brauchte drei. Es blieb nichts übrig, schon gar nichts für die Bildung des Sohnes.

"Hinzu kam die ausgeprägte Kriminalität", nennt sie einen weiteren Grund. In den Straßen Kaliningrads war niemand mehr sicher. "Vier Wochen, bevor wir ausreisten, ging mein Sohn mit Freunden im Park spazieren", erzählt Jelena Simakowa. "Da kamen zwei Militärschüler und haben die Jungs zusammengeschlagen. Mein Sohn hatte eine gebrochene Nase." Da wusste sie erst recht, dass es richtig sein wird, zu gehen. "Das pure Leben in Russland braucht viel Energie."

In Wolmirstedt ging ihr Sohn erst in die Gutenberg-Schule, wechselte dann aufs Gymnasium. Jelena Simakowa ist stolz. "Jetzt studiert er Wirtschaft an der Universität und arbeitet nebenbei." Der Lebensweg des Sohnes ist ihr größtes Glück, noch dazu, weil er und seine Frau ihr vor vier Jahren ein Enkelkind schenkten. Das betreut Jelena Simakowa zweimal in der Woche. "Dort werde ich gebraucht", sagt die 59-Jährige.

Ansonsten macht sie sich keine großen Hoffnungen, noch einmal Arbeit zu finden. Ein paar Ein-Euro-Jobs hatte sie schon, doch nun wird wohl nichts mehr kommen. Sie arbeitet gerne in ihrem kleinen Schrebergarten, hat dort nette Nachbarn und wundert sich manchmal über die deutsche Mentalität. "Meine Gartennachbarn sind schon morgens um sieben im Garten." Dann lacht sie: "Sachsen-Anhalt ist ja auch das Land der Frühaufsteher."

Und sie erinnert sich an einen Urlaub. "Doppelzimmer sind teuer und ich habe eine andere Frau gesucht, die mit mir zusammen verreist, damit wir uns das Geld teilen." Sie fand eine, die auch aus Russland kam, und während der Reise wurden sie gefragt, ob sie zusammen wären. Jelena Simakowa lacht. "In Russland ist es ganz normal, dass drei oder vier Frauen in einem Zimmer übernachten." Es sind die ungeschriebenen Gesetze, über die sie manchmal zu stolpern glaubt.

Irina Zimin möchte gerne wieder mit Kindern arbeiten. Das hat sie in Wolmirstedt schon getan, doch die Verträge sind ausgelaufen. Gartenarbeit, wie Jelena Simakowa sie betreibt, kommt für Irina Zimin nicht in Frage. "Ich habe schon zu viel und zu schwer gearbeitet", erklärt sie entschlossen, "es reicht".

Beide sind froh, hier zu sein, mögen die Sauberkeit, die Ruhe. Dennoch, inzwischen wissen sie, dass die Rechnung nicht ganz aufgehen wird. "Wir haben diesen Schritt zwar für die Kinder getan", erklärt Jelena Simakowa, "aber erst unsere Enkel werden wirklich davon profitieren". Weil erst deren Wurzeln in Deutschland einwachsen können.