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Suche nach dem vermissten van Gogh

06.01.2014, 17:50

Mit dem Münchener Kunstfund und dem Auftauchen von Hunderten Bildern berühmter Künstler Ende des vergangenen Jahres war auch die Koordinierungsstelle Magdeburg und deren Internetseite "Lost Art" über Nacht weltberühmt geworden. Mehr als fünf Millionen Aufrufe verzeichnete die Seite pro Tag. Volksstimme-Redakteur Alexander Dinger sprach mit dem Chef der Stelle, Dr. Michael Franz.

Volksstimme: Herr Franz, haben Sie schon einmal in natura NS-Raubkunst oder Beutekunst gesehen?

Michael Franz: Wir haben bisher zwar noch nie ein Beute- oder Raubkunstwerk bei uns hier in der Koordinierungsstelle gehabt. Aber wir sind natürlich auch dabei, wenn es um die Rückgabe von Objekten geht. Im Rahmen einer meiner ersten Dienstreisen im Frühjahr 1999 war ich in Gotha, Schloss Friedenstein, wo ich das Kupfergemälde "Die Heilige Familie" von Joachim Wtewael sah: Es wurde einst als Beutekunst aus Gotha mitgenommen. Nach einer regelrechten Odyssee über Russland und England wurde es in London beschlagnahmt. Dann schloss sich ein mehrjähriges Verfahren vor englischen Gerichten an. Im Ergebnis wurde das Kunstwerk - eben 1999 - wieder an Gotha übergeben.

Volksstimme: Warum wurde die Koordinierungsstelle erst 1994 gegründet?

Michael Franz: Anfang der 90er-Jahre wurde bekannt, dass viele Kunstwerke nicht kriegsbedingt vernichtet wurden, sondern sich in ausländischen Museen oder Sammlungen befanden. Allein in Magdeburg haben wir - ob es nun das Kulturhistorische Museum oder die Stadtbibliothek sind - Hunderte von Verlustmeldungen. Stellvertretend sei hier zum Beispiel das Gemälde "Der Maler auf dem Weg nach Tarascon" von van Gogh aus dem Kulturhistorischen Museum genannt, das bis heute nicht gefunden worden ist. 1994 haben sich neun Länder daher Gedanken gemacht, wie man mit diesem gesamtdeutschen Problem umgehen könnte und die Koordinierungsstelle ins Leben gerufen. Unsere Aufgabe war zunächst ausschließlich die Dokumentation von Beutekunstverlusten - also der kriegsbedingt verbrachten Kulturgüter - öffentlicher Einrichtungen. Ab 1998 haben alle Bundesländer die Stelle unterstützt. Hinzugekommen sind dann auch neue Aufgaben wie die Erfassung der Beutekunstverluste von Privatpersonen. Ende der 90er rückte dann auch mehr das Thema der NS-Raubkunst, also die NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgüter, in den Fokus.

Volksstimme: Das Thema Raubkunst ist ja nicht erst seit dem Jahrtausendwechsel bekannt. Warum wurde es aber erst 2001 mit in die Arbeit der Koordinierungsstelle aufgenommen?

Michael Franz: Das ist immer abhängig von den jeweiligen Entwicklungen. Am Beispiel der Beutekunst wird das sehr deutlich: Bis zum Ende der 80er-Jahre hatte man nicht damit gerechnet, dass die deutschen Kulturgüter noch existierten. Es war insofern eine große Überraschung, als zwei Kunsthistoriker in Moskau die Listen gefunden haben, in denen Objekte vor ihrem Abtransport aus Deutschland verzeichnet worden waren. Ähnlich verhält es sich mit der Frage der sogenannten Raubkunst. Dadurch, dass das Interesse immer größer wurde, war jedermann klar, dass neben der Beute- auch die Raubkunst eine besondere Betrachtung verdient hat. 1998 wurde dann in Washington die erste internationale Konferenz zum Thema Raubkunst veranstaltet. Damals ist auch die Idee einer Internetdatenbank entstanden. Mit Lost Art haben wir eine Datenbank geschaffen, die ständig erweitert wird.

Volksstimme: Es gibt also die Seite des Suchenden und im besten Falle die Seite des Findenden. Die Lost-Art-Datenbank ist die Schnittstelle. Wie finden beide Seiten zusammen?

Michael Franz: Lost Art ist quasi ein virtuelles schwarzes Brett. Wenn wir Informationen bekommen, prüfen wir, ob sie plausibel sind. Ist das der Fall, wird die Information in Lost Art als eine Meldung aufgenommen. Dann kann es durchaus geschehen, dass jemand etwa das Bild wiedererkennt und mehr wissen möchte. Und da hat man die Möglichkeit, sich direkt mit dem Melder in Verbindung zu setzen. Die erste Aufgabe ist es, das gesuchte und gefundene Bild miteinander abzugleichen. Auf der Bild-rückseite finden sich hierzu beispielsweise Speditionsangaben, Inventarisierungsangaben, handschriftliche Vermerke - alles Dinge, die ein Objekt unverwechselbar machen.

Volksstimme: Es ist ein offenes Geheimnis, dass gerade in der Münchener Kunstszene viele Sammler nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor allem finanziell von Raubkunst profitiert haben. Warum hat es so lang gedauert, bis das auch thematisiert wurde?

Michael Franz: Die Frage der Provenienzforschung, also die Ermittlung des Lebenslaufes eines Gegenstandes, ist stets Teil der kunsthistorischen Ausbildung gewesen. Es spielen aber ganz unterschiedliche Faktoren eine Rolle, dass diese Themen uns erst seit etwa 15 Jahren beschäftigen. Ein Faktor ist ganz gewiss folgender: Gerade bei der jüngeren Generation ist ein hohes Bedürfnis danach entstanden, zu wissen, was man eigentlich im Besitz hat.

Volksstimme: Also sind es zunehmend auch Privatpersonen, die Klarheit wollen?

Michael Franz: Wir sehen in unserer Statistik, dass etwa seit zehn Jahren gerade auch Privatpersonen bei uns einstellen, wozu sie aber überhaupt nicht verpflichtet wären. Viele wollen wissen, was sie in ihrem Besitz haben. Das betrifft gerade den sehr kritischen Zeitraum von 1933 bis 1945. Die Schwierigkeit, ist, dass viele Museums- und Inventarverzeichnisse einfach vernichtet worden sind. Sie haben daher häufig keinen Anhaltspunkt, wem welches Objekt zu welchem Zeitpunkt gehörte und müssen also herausfinden, bei wem und wo sich die Objekte befanden. Welche Erwerbs- und Verkaufsvorgänge fanden statt? War es in Privatbesitz? Daran knüpfen sich ja rechtliche Fragen. Das Ziel der Provenienzforschung ist die möglichst lückenlose Aufklärung. Sie können den Lebenslauf eines Bildes nachzeichnen. Sie wissen zum Beispiel, ob ein Bild Gegenstand einer Entzugsmaßnahme war oder ob es weggenommen wurde. Das muss als Erstes geklärt werden, bevor Sie zu allen anderen politischen, moralischen, ethischen und rechtlichen Fragen kommen.

Volksstimme: Hat Sie das Interesse am Schwabinger Kunstfund überrascht?

Michael Franz: Der Schwabinger Kunstfund ist ganz sicher etwas bisher Einmaliges: Zwar gab es in den 50er- und 60er-Jahren viele Rückführungen auch umfangreicher Konvolute, ansonsten aber, ausgenommen im Bibliotheksbereich, in dem auch mal Hunderte Bücher zurückgeführt werden, geht es in der Regel um einzelne Objekte.

Volksstimme: Mit Bekanntwerden des Kunstfundes hatte Ihre Seite bis zu fünf Millionen Aufrufe täglich.

Michael Franz: Durchschnittlich hatten wir ca. 50 000 Zugriffe auf Lost Art pro Tag. Ab dem 11. November 2013 waren es dann plötzlich zwei bis drei Millionen; bei fünf Millionen war der Server am Ende seiner Kapazitäten. Meine Kollegen haben dann mit der Magdeburger Otto-von-Guericke-Universität und dem dortigen Universitätsrechenzentrum schnell sehr gute Arbeit geleistet, dass das System rasch wieder stabilisiert wurde. Im Moment ist die Auslastung im regulären Bereich. Wir hatten schon 1999 bei der Konzipierung von www.lostart.de mit der Universität Kontakt aufgenommen. Die Universität hat nicht nur hervorragende IT-Fachbereiche, sondern auch ein exzellentes Rechenzentrum. Im Moment liegen wir bei 100 000 bis 150 000 Aufrufen pro Tag. Vom Schwabinger Kunstfund haben wir aktuell 442 Werke online.

Volksstimme: Wie geht es jetzt weiter? Warten Sie darauf, dass Sie weitere Meldungen kriegen?

Michael Franz: Ja, die Staatsanwaltschaft Augsburg meldet uns die entsprechenden Objekte. Da wir keine Meldung ohne Melder aufnehmen, steht also immer eine Person oder eine Institution hinter einer Meldung. Die Arbeiten zum Schwabinger Fund sind mithin noch nicht abgeschlossen.

Volksstimme: Sie haben Jura studiert. Wie sind Sie denn eigentlich zur Kunst gekommen?

Michael Franz: 1994 hatte ich mein Erstes Juristisches Staatsexamen abgelegt und anschließend überlegt, ob ich hieran unmittelbar das Referendariat anschließen oder eine Dissertation versuchen sollte. Ich hatte bereits damals einige Rechtsprobleme im Zusammenhang mit der derzeit erstmalig aufgetauchten Beutekunst beobachtet und mich daher für die Dissertation entschieden. Das Thema begleitet mich also schon mein ganzes Berufsleben.