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Das Sommerinterview: Heute mit Martin Pfarr, Landessprecher des Lesben- und Schwulenverbandes "Mancher kann es bis heute nicht ertragen, dass sich Männer küssen"

15.08.2011, 04:39

Zur Serie "Das Sommerinterview" treffen sich Volksstimme-Redakteure an ungewöhnlichen Orten mit Menschen, die das Stadtleben auf unterschiedliche Weise prägen. Heute kommt Martin Pfarr zu Wort. Der 55-jährige Allgemeinmediziner war Mitgründer der ostdeutschen Homosexuellenbewegung. Heute ist der gebürtige Magdeburger Mitglied im Landes- und Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland. Katja Tessnow traf Martin Pfarr in der Liebigstraße. Hier feiern Lesben und Schwule am kommenden Sonnabend den 10. Christopher Street Day.

Volksstimme: Was bedeutet es Ihnen, dass anlässlich der aktuellen Aktionswoche zum Christopher Street Day erstmals die Regenbogenfahne, das Symbol der Homosexuellenbewegung für Vielfalt und Toleranz, am Rathaus weht?

Martin Pfarr: Das bedeutet mir viel, auch wenn ich sicher bin, dass es ohne den Druck der Öffentlichkeit nicht passiert wäre. Politik wird auch von Symbolen getragen und das Hissen der Regenbogenfahne am Rathaus ist ein Symbol für Weltoffenheit und für Toleranz gegenüber Lesben und Schwulen in der Gesellschaft. Es ist ein Zeichen dafür, dass sich die Stadt zu ihrer Minderheit bekennt und das in ihren Kräften stehende tut, dass sich Lesben und Schwule hier wohlfühlen.

"Schwule und Lesben sind tagtäglich Opfer von Übergriffen"

Volksstimme: Es gibt im Stadtrat und darüber hinaus auch Stimmen von Magdeburgern, die meinen, da könnte ja jeder kommen und vor dem Rathaus sein Fähnchen in den Wind hängen; jeder Kleingarten- oder Fußballverein oder zum Beispiel das Puppentheater, wenn es gerade ein internationales Festival in Magdeburg veranstaltet.

Martin Pfarr: Ja doch, und wenn der 1. FCM mal wieder ein großes Spiel gewinnen sollte, würde sich jeder freuen, wenn die Vereinsfahne am Rathaus weht. Nichts dagegen, aber warum dann nicht auch unsere?

Allerdings wäre mir nicht bekannt, dass Kleingärtner oder Fußballer einer bis heute in vielen anderen Ländern der Welt verfolgten Minderheit angehören, so wie es Homosexuelle sind.

Volksstimme: Noch 2010 hat der Stadtrat das Hissen der Fahne mehrheitlich abgelehnt unter anderem, so argumentierten Stadträte, weil die Diskriminierung von Homosexuellen hierzulande längst Geschichte sei.

Martin Pfarr: Mit diesem Widerstand im vergangenen Jahr hatten wir überhaupt nicht gerechnet, weil das Hissen der Regenbogenfahne an den Rathäusern anderer Großstädte zu den dortigen Chistopher Street Days inzwischen Normalität ist. Die Argumente, die damals von Stadträten dagegen vorgebracht wurden, sind von wenig Sachkenntnis getragen.

Schwule und Lesben sind trotz aller Fortschritte bei der rechtlichen Gleichstellung bis heute tagtäglich Opfer von Beleidigungen und körperlichen Übergriffen auch hier in Magdeburg. Es werden in der Stadt jährlich vier bis fünf Überfälle zur Anzeige gebracht, aber wir müssen davon ausgehen, dass die Dunkelziffer weit höher liegt. In einer bundesweiten Studie haben 2006 allein 160 homosexuelle Magdeburger die Frage nach einer Gewalterfahrung im laufenden Jahr mit ja beantwortet.

Volksstimme: Wo spielt sich solche Gewalt ab? Wo sind Beleidigungen an der Tagesordnung?

Martin Pfarr: Auf der Straße, im persönlichen Umfeld, in der Schule, bei der Lehre, unter Kumpels, von der Homophobie im Sport, zum Beispiel in Fußballstadien, ganz zu schweigen.

Volksstimme: Zurück zu den Diskussionen im Magdeburger Rathaus. Oberbürgermeister Lutz Trümper hat in diesem Jahr zum zehnten Mal in Folge die Übernahme der Schirmherrschaft über den Christopher Street Day abgelehnt und dafür viel Kritik, aber auch Zuspruch geerntet. Als SPD-Fraktionschef im Köthener Stadtrat sind Sie Parteikollege von Trümper. Trifft es Sie persönlich, wenn er zu Ihrer Aktionswoche so offensichtlich auf Distanz geht?

Martin Pfarr: Doch, schon. In der SPD, auch bei den Grünen und der Linken, haben Homosexuelle politische Fürsprecher, wenn es um ihre Gleichstellung geht, von der wir, zum Beispiel was Ehe, Steuer- oder Adoptionsrecht betrifft, noch ein Stück entfernt sind. Die Forderung nach Öffnung der Ehe für Homosexuelle ist das Leitmotto des 10. CSD in Magdeburg. Viele wissen überhaupt nicht, dass die Eingetragene Lebenspartnerschaft eine Ehe zweiter Klasse mit gleichen Pflichten, aber ohne gleiche Rechte ist. Auf dem nächsten SPD-Bundesparteitag wird es einen Leitantrag zur Öffnung der Ehe für Menschen gleichen Geschlechtes geben. Das ist ein wichtiger Schritt.

Es berührt mich schon sehr, wenn gerade der oberste Repräsentant meiner Geburts- und Heimatstadt dazu eine andere Haltung hat.

Volksstimme: Es gibt aber auch Kritiker, die es als penetrant empfinden, wenn Sie oder besser Ihr Verband den OB zehnmal in Folge um eine Schirmherrschaft bitten und nicht einfach akzeptieren, dass er das nun mal nicht machen will.

Martin Pfarr: Warum sollten wir ihn aus seiner Verantwortung entlassen? Seine Absage 2010 hat er gar nicht begründet. In den Jahren zuvor hat er meist aus Termingründen abgesagt. Wir haben es keineswegs als penetrant empfunden, immer wieder nachzufragen und hätten uns auch vorstellen können, dass er zum Jubiläums-CSD in diesem Jahr einfach mal zusagt.

Volksstimme: Er hat im Gegenteil durchaus gereizt klargestellt, dass er nicht gewillt ist, sich dazu durch öffentlichen Druck zwingen zu lassen. Ist das Tischtuch jetzt gänzlich zerrissen?

Martin Pfarr: Wir sind überhaupt nicht daran interessiert, dass da etwas hochkocht. Ein gutes Klima in der Stadt hilft uns am meisten. Jedenfalls haben wir das Gespräch mit dem Oberbürgermeister gesucht und uns sehr gefreut, dass er das Angebot des Lesben- und Schwulenverbandes angenommen hat. Am 6. September gibt es ein Treffen und bereits am 15. August (heute um 17 Uhr - d. Red.) gibt es auf Einladung der SPD einen Empfang der Ratsfraktionen für Lesben und Schwule im Rathaus. Wer weiß, vielleicht haben wir ja 2012 einen Schirmherrn Trümper.

"Meine Mutter hat sich gefragt, was sie falsch gemacht hat"

Volksstimme: Wann haben Sie sich eigentlich persönlich als Homosexueller geoutet?

Martin Pfarr: Meinen Eltern gegenüber mit 23 Jahren. Da hatte ich keine Probleme. Allerdings hat meine Mutter sich schon einige Zeit Vorwürfe gemacht und sich gefragt, was sie falsch gemacht hat.

Volksstimme: Die DDR hat schon weit vor der BRD den sogenannten Schwulenparagrafen der Nazis, der "Unzucht zwischen Männern" unter Strafe stellte, außer Kraft gesetzt. War es im Osten leichter, sich zum Schwulsein zu bekennen?

Martin Pfarr: Nein, im Gegenteil. Im Osten gab es noch bis zur Wende sehr wenig Möglichkeiten für Schwule, sich zu treffen, während im Westen schon eine große Szene blühte. Als wir nach der Maueröffnung erstmals nach Westberlin kamen, da sind einem als schwulen Mann wirklich die Augen übergegangen. Man kann schon sagen, dass wir um unsere Jugend betrogen worden sind, weil wir uns in der DDR nicht ausleben konnten.

Volksstimme: Haben Sie den Dienst bei der NVA absolviert?

Martin Pfarr: Ja, anderthalb Jahre.

Volksstimme: Und wie war das als schwuler Mann?

Martin Pfarr: Schon schlimm, aber da habe ich noch gelogen und mich nicht geoutet. Auch meine Kommilitonen später beim Studium wussten nicht, dass ich schwul bin. Aber ich habe in der evangelischen Kirche Ansprechpartner gefunden, vor denen ich offen über mein Schwulsein sprechen konnte.

Volksstimme: Heute leben Sie in Köthen, praktizieren dort als Allgemeinmediziner, sind politisch aktiv und treten offen für die Rechte Homosexueller ein. Welche Erfahrungen machen Sie in Ihrem Umfeld?

Martin Pfarr: Fast ausschließlich positive. In Köthen weiß so gut wie jeder, dass ich schwul bin. Ich kann nicht ausschließen, dass der ein oder andere Patient sich deshalb eine andere Praxis gesucht hat und auch in der Fraktion im Köthener Stadtrat gab es schon Einzelne, die ein Problem damit hatten, aber das sind wie gesagt Einzelfälle. Ich ermuntere regelmäßig andere Homosexuelle, sich zu outen, weil meine Erfahrungen damit sehr gut sind. Und ich finde es gut und wichtig, dass heute viele Prominente offen zu ihrer Homosexualität stehen. Klaus Wowereit ist von einer regelrechten Welle der Sympathie ergriffen wurden, als er sich outete. Auch dass sich Anne Will geoutet hat, hat mich gefreut. Sie ist eine Sympathieträgerin, und für uns Homosexuelle sind das wichtige Signale an die Öffentlichkeit. Sie verhelfen uns zu Akzeptanz.

Volksstimme: Um Akzeptanz, Toleranz, Respekt und Gleichstellung geht es Ihnen auch mit den Aktionen zum Christopher Street Day. Höhepunkt sind Straßenparade und Liebigstraßenfest am Sonnabend. Bei solchen Aktionen sind auch aufreizende Kostümierungen üblich, die manchem Passanten übel aufstoßen. Auch im Stadtrat gab es Stimmen, die sinngemäß sagten: Wir haben nichts gegen Homosexuelle, aber müssen sie halbnackt durch die Stadt ziehen?

Martin Pfarr: Erst mal ist es nicht gerade typisch, dass schwule Männer da halbnackt durch die Gegend laufen. Das sind Einzelne und Bilder von ihnen werden von den Medien besonders gerne vermarktet. Aber warum sollen sie auch nicht im Schutz der Masse ausleben, was sie sich sonst nicht trauen? Wir müssen auch halbnackte Heterosexuelle ertragen, die ihre Neigungen offen zur Schau tragen. Wir wollen mit solchen Paraden aber auch provozieren, uns öffentlich bekennen und den Menschen sagen: Seht her, so sind wir und so müsst ihr uns nehmen! Wir planen zur Straßenparade am Sonnabend zum Beispiel einen kurzen Stopp vor dem Allee-Center und laden die Teilnehmer zum "Kiss-in" ein, also zum Küssen. Ich bin gespannt, wie die Passanten reagieren. Mancher kann es bis heute nicht ertragen, dass sich auch Männer küssen. Wir wollen latente Homophobie, wie sie uns in der Gesellschaft noch vielfach begegnet, zur Sprache bringen. Es gibt viele, die behaupten, nichts gegen Schwule oder Lesben zu haben, aber doch nicht normal mit uns umgehen können. Darüber müssen wir offen diskutieren.

Ich persönlich werde mich zur Straßenparade am 20. August jedenfalls nicht halbnackt kostümieren. Vielleicht werfe ich mich in eine Lederkombi, mal sehen. Aber das ist sicher für manche auch schon eine Provokation.