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Staatssicherheit erfand Namen von Häftlingen für West-Listen / DDR kassierte auch bei Nicht-Auslieferung. Von Wolfgang Schulz Freikauf: Stasi ergaunerte sich Millionen D-Mark

24.01.2013, 01:18

Die DDR kassierte von 1963 bis 1989 für den Verkauf von 33755 politischen Häftlingen mehr als drei Milliarden D-Mark von der Bundesregierung. Der Historiker Jan Philipp Wölbern fand heraus, dass die Stasi den Menschenhandel für Betrügereien nutzte, um zusätzliche Devisen zu erwirtschaften.

Magdeburg l In mindestens 400 Fällen hat sich die DDR Devisen in Millionenhöhe beim Freikauf von politischen Häftlingen zu Unrecht angeeignet, fand Wölbern bei den Forschungen für seine Doktorarbeit heraus. "Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch höher", stellte er fest. Auf einigen Listen seien die Namen von Häftlingen aufgetaucht, die bereits entlassen waren beziehungsweise nicht in die Bundesrepublik abgeschoben, sondern in die DDR entlassen worden sind.

"Ich war mächtig erstaunt, dass ich angeblich freigekauft wurde."

Der Potsdamer Historiker, der kürzlichen einen Einblick in seine Forschungsergebnisse in der Stasi-Gedenkstätte am Magdeburger Moritzplatz gab, fand Beispiele für diese unseriöse Praxis seitens der DDR auch in Magdeburg. Einer, der zu den betrogenen Ex-Häftlingen gehört, ist Johannes Rink.

Der heute 71-jährige Magdeburger musste von 1961 bis 1965 eine vierjährige Haftstrafe wegen "fortgesetzter staatsgefährdender Propaganda und Hetze" bis zum letzten Tag absitzen und wurde in die DDR entlassen. Wölbern fand den Namen Rinks auf einer Liste freigekaufter Häftlinge und nahm Kontakt zu ihm auf. "Ich war mächtig erstaunt, dass ich angeblich freigekauft wurde", sagte Rink der Volksstimme.

Bei den Unterlagen aus dem Bundesarchiv habe er dann einen Hinweis gefunden, dass er zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden sei. "Mein Urteil lautete aber auf vier Jahre. Ich weiß nicht, woher das zusätzliche halbe Jahr kommt." Offensichtlich habe die Stasi seine Haftzeit gegenüber der Bundesregierung nachträglich verlängert, um im Freikauf Devisen für diese sechs Monate zu ergaunern. Rink, der heute Landesvorsitzender der Opferverbände ist, vermutet, dass sich bestimmte Kreise der Stasi durch solche Manipulationen Westgelder beschafft haben.

"16 Mio DM wurden von uns erwirtschaftet - ohne Gegenleistung."

Die Verhandlungen zum Freikauf von politischen Häftlingen lagen fest in der Hand der DDR-Geheimpolizei. Stasi-Chef Erich Mielke empfing die Anweisungen dazu direkt von SED-Generalsekretär Erich Honecker. Die praktische Ausführung wurde Stasi-Oberst Heinz Volpert übertragen, der dabei ohne Skrupel handelte, wie Wölbern herausfand. So heißt es in der vorläufigen Abrechnung für die Häftlingsaktion 1970 von Volpert:

"Die von der Westseite übergebenen Wunschlisten mit den Namen der Häftlinge besaßen große Lücken in exakten Angaben. Dadurch war es uns möglich, 102 sog. erfundene Personen mit zu verrechnen. Insgesamt 45 Strafgefangene, die ebenfalls auf den H(äftlings)-Listen standen, aber bereits zur Entlassung gelangt waren, wurden gleichfalls mit verrechnet. Zählt man die Beträge zusammen, ergibt sich eine Summe von insgesamt 16 Mio DM, die von uns erwirtschaftet wurde - für geringe oder keine Gegenleistungen."

Die Bundesregierung musste auch schmerzhafte Kompromisse eingehen. So bedeutete der Freikauf in den 60er Jahren zwar eine vorzeitige Haftentlassung, aber nicht zwangsläufig die Ausreise in den Westen. "Bis heute ist weitgehend unbekannt, dass ein großer Teil der Häftlinge an ihren früheren Wohnort in die DDR entlassen wurde und nicht in die Bundesrepublik", stellte Wölbern fest.

Die DDR habe anfangs eine Entlassung aller Häftlinge in die Bundesrepublik kategorisch abgelehnt. Faktisch hieß das: Bundesbürger wurden in die Bundesrepublik entlassen, DDR-Bürger in die DDR. "Über Abweichungen von dieser Regel musste jeweils einzeln verhandelt werden", sagte Wölbern.

Das hat teils fatale Folgen gehabt. Denn die Stasi sagte den in die DDR entlassenen Häftlingen nicht, dass sie wegen Zahlungen vom "Klassenfeind" entlassen wurden. Deshalb wurden viele Häftlinge freigekauft, ohne davon zu wissen - und viele wissen es bis heute nicht. "Mittlerweile sind mir mehr als 100 solcher Einzelfälle bekannt. Sie lassen die These zu, dass das MfS gezielt versuchte, die Entlassung in den Westen zu verhindern."

Verhaftungen durch die Stasi nur, um Häftlinge zu verkaufen?

In seinen Schlussfolgerungen kommt Wölbern zu der Frage, ob die Stasi Leute verhaftet hat, nur um sie an den Westen zu verkaufen? Grund dafür gibt eine Aussage von Stasi-Generalmajor Gerhard Niebling, der 1986 Nachfolger des verstorbenen Heinz Volpert wurde und die Verkäufe koordinierte:

"Genossen, angesichts der niedrigeren Übersiedlungszahlen erhöht sich zwangsläufig die Notwendigkeit der Entlassung von Strafgefangenen in die BRD. Es geht um Devisen für unsere Republik, die wir schnell und in möglichst großer Höhe benötigen. Das bedarf wohl sicher keiner weiteren Begründung. Es geht vor allem darum, die Haftfälle beschleunigt zu bearbeiten und abzuschließen, sowie eigene Vorschläge einzureichen, die für eine Einbeziehung geeignet sind. Für eine nahtlose Fortsetzung der bekannten Praxis der Entlassung von StrafGef in die BRD ist es erforderlich, kurzfristig alle in Frage kommenden Personen zu prüfen und möglichst sofort zu melden."

Wölbern: "Wenn die Vorschläge auch solche Personen betrafen, die noch nicht verhaftet waren, aber kurz nach dem Einreichen des Vorschlags verhaftet wurden, wäre das ein Beleg für das Verhaften, nur um zu verkaufen."

"Das gehört zu der Entschlossenheit, mit Halunken zu verhandeln."

Was ahnte oder wusste man im Westen davon? "Denkbar ist, dass es den Verdacht der Täuschung gab, der Sache jedoch im Interesse der Fortführung des Geschäftes nicht weiter nachgegangen wurde. Womöglich verhielt es sich so, wie es ein Zeitzeuge formuliert hat: ,Entweder man lässt sich mit Halunken ein, dann weiß man, dass man mit den Versuchen rechnen muss, übers Ohr gehauen zu werden. Und dann ist die Frage, ob man hinter jedem Fall her ist, mit dem Risiko, dass das ganze Geschäft platzt - oder ob man lieber schluckt. Das gehört zu der Entschlossenheit, mit Halunken zu verhandeln.\'"