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Einsatzkräfte setzen beim Hochwasser in Fischbeck alles auf eine Karte 38 Minuten Ungewissheit nach dem Knall

17.06.2013, 01:26

Jerichow l Der Sonnabend wird vielen im Katastrophengebiet um Fischbeck in Erinnerung bleiben. Von einem Großmanöver und einer Sprengung sollte abhängen, ob der Deichbruch geschlossen oder die Elbe-Havel-Region weiter überflutet wird.

Im Rathaus von Jerichow kann sich an diesem Sonnabendmorgen zunächst noch keiner so richtig vorstellen, wie das funktionieren soll, was sich der Krisenstab der Landesregierung über Nacht grob ausgedacht hat: Drei Lastkähne sollen vor der Deichbruchstelle bei Fischbeck gesprengt werden, damit sie eine wasserdichte Barriere bilden. Der Plan klingt so abenteuerlich, er könnte aus einem Hollywood-Drehbuch stammen.

Friedrich Koop ist um 9 Uhr einer der Ersten, der dem Vorhaben aber eine Chance gibt. Mit einem Sturmboot der Bundeswehr hat der Leiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes in Magdeburg zuvor die Wassertiefen und Strömungen entlang der Deichbruchstelle ausgelotet. "Nun bin ich ein wenig optimistischer", sagt er, vor allem die Strömung sei nicht mehr so stark, dass sie jegliche Operationen zunichte machen könnte. Tage zuvor hatte die Bundeswehr nämlich schon einmal versucht, mit Bigbags die Bruchstelle zu füllen. Die Flut spülte sie aber sofort ins Landesinnere.

"Ob wir die Deichlücke ganz zu kriegen, wage ich nicht einzuschätzen." - Oberst Claus Körbi

So eine Pleite soll es nicht noch einmal geben. Das hoffen zumindest Innenminister Holger Stahlknecht und Bundeswehr-Oberst Claus Körbi, als sie um 10.30 Uhr vor dem Jerichower Rathaus vor die Presse treten. "Wir wollen den Versuch wagen", kündigt Stahlknecht mit ernster Miene an.

Zuvor hat der Schlachtplan hinter den verschlossenen Rathaustüren bereits Gestalt angenommen: Ein Dutzend Hubschrauber der Bundeswehr und Bundespolizei sollen zunächst links und rechts der Deichbruchstelle Panzerbarrieren aus Stahl und Geröll abladen. An den Aufliegern sollen nachmittags zunächst zwei abgewrackte Lastkähne verankert und anschließend gezielt mit Sprengstoff versenkt werden.

Sie allein bilden dabei noch nicht die Flutbarriere. Nach der Sprengung müssen Hubschrauber binnen Minuten große Sandsäcke im Akkord abwerfen, um den Elbestrom wirksam zu verringern.

"Ob wir die Deichlücke ganz zu kriegen, wage ich nicht einzuschätzen", betont Oberst Körbi. Es bestehe die Gefahr, dass die Schiffe bei der Sprengung bersten und von der Flut ins Landesinnere gespült werden könnten. Aber Stahlknecht und Körbi wollen auch nicht weiter hinnehmen, dass das Land zwischen Elbe und Havel völlig im Wasser versinkt. "Die Überschwemmungsfläche ist bereits so groß wie der Bodensee", verdeutlicht Stahlknecht.

Um alles Weitere vorzubereiten, eilen die beiden Entscheider gleich im Anschluss weiter an den Ortsrand von Jerichow, von dort aus wollen sie den Tag über den riskanten Einsatz leiten. Auf dem Gelände des Klosters hat nämlich die Bundeswehr bereits eine technische Einsatzzentrale improvisiert. Funkwagen, Panzerwagen, Lkw und Hubschrauber stehen dort verteilt. Zudem parken dort die Übertragungswagen aller großen Fernsehsender, so dass nur noch wenig an den sonst idyllischen Ort des Friedens erinnert.

Um 13 Uhr geht es los. Von der Straße zwischen Jerichow und Fischbeck aus transportieren Hubschrauber im Akkord Sandsäcke. Aufkommender Wind trägt den Geruch von Kerosin bis zum Kloster, das brummende Geräusch der Rotoren breitet sich über ganz Jerichow aus.

"Das ist hier für die Einsatzkräfte ein harter Kampf gegen die Natur." - LHW-Präsident Burkhard Henning

Damit die Versorgung nicht abreißt, donnern immer wieder gepanzerte Bundeswehr-Lkw beladen mit Bigbags über die Straßen. Mehrere Dutzend Helfer des Technischen Hilfswerks beladen entlang der Landstraße zusätzlich noch weitere Behälter mit paketgroßen Wackersteinen.

Im Grünen, ein wenig abgeschieden hinter zwei Gebäuden des Klosters, kommt unter freiem Himmel immer wieder der Einsatzstab zusammen: Spitzen von Bundeswehr, Bundespolizei, THW, Wasser- und Schifffahrtsamt sowie dem Landesbetrieb für Hochwasserschutz - im Prinzip alle, die einen Beitrag im Kampf gegen das Wasser leisten und drängende Fragen schnell beantworten können. Reichen 1000 Bigbags? Sind genügend Hubschrauber verfügbar? Und vor allem: Wann kann gesprengt werden?

Um 15 Uhr tritt Oberst Körbi mit Innenminister Stahlknecht und Burkhard Henning, dem Chef des Landesbetriebs für Hochwasserschutz vor die Presse. "Es läuft alles nach Plan", verkündet Körbi, die Ankerpunkte für die Schiffe hielten bereits den Fluten stand, die Sprengung könnte gegen 18 Uhr erfolgen. Ganz so optimistisch gibt sich Henning aber nicht: "Das ist hier für die Einsatzkräfte ein harter Kampf gegen die Natur."

Am Nachmittag zieht der Großeinsatz immer mehr Schaulustige an. Zu Fuß und mit Fahrrädern strömen Hunderte Einwohner Jerichows zum Kloster, um von dort die Hubschrauber zu beobachten. Auch in Tangermünde versammeln sie sich am Ufer der Elbe, um hinüber zum Einsatzort nach Fischbeck zu schauen.

Mit jeder Stunde, die vergeht, steigt bei Verantwortlichen, Einsatzkräften und Schaulustigen die Anspannung. "Das ist wie vor einer Examensprüfung", gibt Stahlknecht zu. Er hat gerade erfahren, dass sich die Sprengung hinauszögert und knetet aufgeregt mit den Händen in der Hosentasche.

"Das war eine operative Meisterleistung, wir sind auf einem guten Weg." - Innenminister Holger Stahlknecht

Gegen 19 Uhr nimmt der Betrieb im Luftraum ab. "Die Hubschrauber tanken jetzt auf, dann geht es los", erläutert Körbi, der sich mit Stahlknecht auf der Terrasse eines Wirtshauses am Kloster niedergelassen hat. "Gelingt die Sprengung nicht, können wir alles andere vergessen." Ob die Detonation des Sprengstoffs bis Jerichow zu hören ist, klärt sich um 19.48 Uhr. Ein lauter, dumpfer Knall gefolgt von einer leichten Druckwelle lässt alle aufschrecken. Es folgen 38 Minuten der Ungewissheit.

Stahlknecht bestellt sich im Wirtshaus ein Bier. Zurück auf der Terrasse zündet er sich dazu noch eine Pfeife an und schaut immer wieder fragend zu Körbi. Der kommt mit seinem Handy bei den Einsatzkräften am Deich aber nicht durch: "Die drücken mich immer wieder weg." Um 20.11 Uhr dann plötzlich eine zweite, kleinere Sprengung. Noch immer ist nicht klar, was los ist, aber der Oberst schnappt sich nun den Minister und startet zu einem Aufklärungsflug mit dem Hubschrauber.

Um 20.30 Uhr landen beide, Stahlknecht hat ein breites Grinsen aufgesetzt. Sie verkünden: Operation geglückt. "Das ist ein echter Erfolg, das hat noch nie einer versucht", so Körbi. Auf 20 Meter sei die Bruchstelle verringert worden. Sonntag wird mit einem weiteren Lastkahn der verbliebende Teil geschlossen. Stahlknecht frohlockt: "Das war eine operative Meisterleistung, wir sind auf einem guten Weg, das Wasser zum Halten zu bringen."