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Eine zwölfjährige Magdeburgerin lebt an der Palucca-Schule in Dresden ihren Traum. Emily: Zwischen Pas de deux und Pythagoras

Schneeweißer Tüll - das ist der Stoff, aus dem Emily Möwes Träume sind.
Die zwölfjährige Magdeburgerin will Profitänzerin werden, am liebsten
eine Primaballerina.

Von Janette Beck 17.01.2014, 01:15

Dresden l Es ist 6.40 Uhr. Emilys Wecker klingelt und zerreißt die Stille, die bis dahin im Zweibettzimmer des Palucca-Internats in Dresden herrschte. Wenig später ist auf dem Flur das charakteristische Schlurfen zu hören - das monotone Geräusch, das die kuschelig-warmen, fast bis zu den Knie gehenden "Puschen" verursachen. Auch die zarten Füße der Zwölfjährigen verschwinden darin, um zum Frühstück in die Mensa zu huschen. "Die Teile nennen sich Buddies. Aber fragen Sie mich nicht, wie das geschrieben wird. Diese Schuhe haben wir hier jedenfalls fast alle an", klärt Emily das auffällige Outfit.

Emily tanzt seit sie denken kann. Schon als Dreijährige habe es sie auf keinem Stuhl gehalten, sobald Musik ertönte. Mit dreieinhalb Jahren tanzte sie in der Kindergruppe des Magdeburger Theaters. Mit zehn in der staatlichen Ballettschule in Berlin. Und nunmehr treiben es ihre Füße in Dresden auf die Spitze.

Überhaupt die Füße. Sie sind momentan "das große Thema" bei Emily und ihren Freundinnen. Trotzdem: "Abgesehen davon, dass auf meinem Stundenplan neben Englisch, Bio oder Mathe auch Folklore, klassischer Tanz oder Tanzgeschichte stehen, bin ich nicht viel anders als andere in meinem Alter", sagt Emily. Außer vielleicht noch, dass in ihrem Schrank ein Tutu und an den Wänden im Internatszimmer Plakate von Ballettaufführungen und Primaballerinen statt Miley Cyrus oder Justin Bieber hängen würden.

Eine ganz normale Zwölfjährige also? Die Realität widerspricht Emilys Aussage in vielem. Denn die meisten pubertierenden Mädchen zeigen sich wohl eher Schuhe als Füße. Und welches "normale" Mädchen klemmt daheim den Fuß unter irgendeiner Kante ein, um ihn dann so weit nach hinten zu biegen, bis es nicht mehr geht?

Emily und ihre Mitschüler machen das. Aus gutem Grund: "Als Tänzerin musst du einen guten Fuß haben, und wenn man das schon von Geburt aus hat, ist das natürlich das Beste", plaudert sie aus dem Nähkästchen einer Ballerina. "Ein guter Fuß bedeutet, er muss nicht nur stark sein, sondern vor allem den richtigen Spann haben, sich also unglaublich doll strecken können." Zur Demonstration hüpft das gertenschlanke Mädchen vom Küchenhocker, setzt sich auf den Fußboden, streckt die Beine durch und den Fuß nach vorne, sodass der große Zeh fast den Boden berührt.

Natürlich weiß die kleine Ballerina längst auch um die Schmerzen, die ihre große Leidenschaft mit sich bringen kann. Und Emily ahnt, dass ihr das Schlimmste noch bevorsteht, denn Tanzen ist für die Füße Schwerstarbeit - blutige Blasen, blaue Flecken, Muskelschmerzen inklusive. "Ich habe die Füße und die verkrüppelten Zehen der Älteren schon gesehen. Das ist echt kein schöner Anblick. Später einmal als Fußmodel zu arbeiten, das kann ich als Tänzerin wohl vergessen", witzelt sie.

Und doch hat sie keine Angst vor den nächsten großen Herausforderungen, die unmittelbar bevorstehen. Im Gegenteil, so "entspannend und schön" die freien Tage zwischen Weihnachten und Neujahr mit der Mama und den vier Geschwistern auch gewesen sein mögen, Emily sehnte den Tag der Abreise herbei. Denn endlich darf Emily "en pointe" - auf Spitze - tanzen. "Unsere Ballettlehrerin hatte angekündigt, dass wir nach den Weihnachtsferien damit beginnen.

Das ist etwas ganz Besonderes, darauf haben wir alle lange gewartet und unsere Füße ein halbes Jahr vorbereitet", beschreibt die Zwölfjährige den besonderen Schritt, den Palucca-Schülerinnen zumeist erst im Alter von 11 bis 12 Jahren gehen dürfen. Er ist in Emilys Augen der entscheidende Schritt, der sie ein großes Stück näher an ihr großes Vorbild bringt: Polina Semionova.

Die Russin, die einst ihre Ausbildung am renommierten Bolschoi-Theater mit Auszeichnung beendet hatte, war bereits mit 18 Jahren Erste Solistin am Berliner Staatsballett. Auch an der angegliederten Schule ging die legendäre Primaballerina seit 2003 ein und aus. Und genau hier wollte auch Emily ihren Traum verwirklichen. Unbedingt. "Irgendwann hatte ich mir in den Kopf gesetzt, Profitänzerin werden zu wollen. Meine Mama war erst gar nicht so begeistert, aber ich habe solange gebettelt, bis ich in Berlin vortanzen durfte."

Das Talent, das Emily quasi in die Wiege gelegt wurde ("In meiner Familie gibt es Tänzer, Schauspieler und Sänger. Mein Opa ist sogar Kammersänger und auch schon an der Semperoper aufgetreten."), blieb nicht unerkannt. Und so wurde sie im Sommer 2012, im Alter von gerade mal zehn Jahren, in die fünfte Klasse der staatlichen Ballettschule eingeschult - und kam so auch mit besagter Semionova in Berührung. "Ich habe sie tanzen sehen und bewundere sie sehr. Nicht einmal wegen ihrer perfekten Fußtechnik, sondern weil sie einen besonders starken Ausdruck hat", schwärmt die kleine Ballerina von der Primaballerina, die inzwischen als Professorin an der staatlichen Ballettschule in der Hauptstadt arbeitet.

Dass Emily dennoch nicht unter den Fittichen ihres Idols groß werden wird, ist eine andere Geschichte. Doch über die Gründe, warum sie sich vor gut einem Jahr entschieden hat, an der Palucca-Tanzhochschule in Dresden vorzutanzen und auf dem letzten Drücker den Eignungstest und die Aufnahmeprüfungen zu absolvieren, möchte sie "eigentlich nicht so gerne reden". Sie habe sich in Berlin "einfach nicht wohlgefühlt", weicht das Mädchen aus.

Und so lässt sich nur erahnen, worüber in der Szene eben nicht so gerne gesprochen wird. Denn das Leben einer Profitänzerin - das zeigt nicht zuletzt der packende Psychothriller "Black Swan" - hat offensichtlich auch seine dunklen Seiten: Drill, rigide Anweisungen, Essstörungen, Strenge, Schmerzen, ständige Gewichtskontrollen und Existenzängste - das sind Klischees, die vor allem dem professionellen klassischen Ballett seit jeher anhaften.

Wie auch immer, Emilys Mutter beschreibt die damalige Situation jedenfalls so: "Emily war still geworden, hatte den Spaß am Tanzen ein wenig verloren. Das hat mir schon Sorgen bereitet." Aber zum Glück habe es die Tochter selbst so eingeschätzt, dass die sehr eingleisige, klassische Ausbildung nicht so ihr Ding ist. "Dann ging alles Knall auf Fall, denn die an der Palucca haben gesagt, wenn sie wechseln will, dann sofort."

Ein Zuckerschlecken ist es auch in Dresden nicht. Der Alltag ähnelt dem von Leistungssportlern. Die meisten der 200Schüler und Studenten trainieren jeden Tag fünf bis sechs Stunden. Die Tanzausbildung ist im Vergleich zu Berlin sehr breit gefächert. Klassischer und zeitgenössischer Tanz, Improvisation, Choreographie, Technik und Folklore gehören ebenso zum Unterricht wie die Theorie-Fächer Tanzgeschichte und Tanzsoziologie. Daneben läuft der ganz normale Schulunterricht, der zum Realschulabschluss führt.

Selten ist vor 17 Uhr Schluss, es sei denn, es muss geprobt werden wie zuletzt vor Weihnachten für den ganz großen Auftritt in der Semperoper.

Erschwerend kam für Emily anfangs hinzu, dass sie in ihrer Klasse die einzige "Quereinsteigerin" zum Halbjahr war und demzufolge viel aufzuholen hatte. "Aber zum Glück bin ich eine gute Schülerin, wenn man mal von Mathe absieht. Beim Tanzen musste ich mich echt anstrengen, um hinterherzukommen."

Vom ersten Tag an habe sie sich an der Palucca wohlgefühlt, versichert die Magdeburgerin und ihre Augen beginnen zu strahlen. "Vom ersten Tag an, so, als wäre ich hier zu Hause. Wir sind eine große Familie, jeder kennt jeden. Und beim Tanzen fühle ich mich viel freier, hier darf ich mich auch mal so bewegen, wie ich es möchte. Das finden die Lehrer sogar gut."

Inzwischen hat Emily ihre 17 Mitschüler, davon sieben Jungs, nicht nur ein-, sondern offensichtlich sogar überholt. Sonst hätte sie wohl kaum ein Kindersolo als Rotkäppchen im Weihnachtsstück der Semper-oper tanzen dürfen. Allerdings in einer modernen Interpretation: "Alle Tänzer waren dick, hatten ausgestopfte Kostüme an." Sie habe als angetrunkenes Rotkäppchen, das sich den Wein für die Großmutter selbst gegönnt hat, tanzen sollen.

"Ganz alleine auf der Bühne, das war toll. Ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann", so Emily, die stundenlang geprobt hatte, um das zu erlangen, was ihrer Mutter manchmal Angst macht: Perfektion. "Emily ist extrem ehrgeizig und mir manchmal zu ernsthaft bei der Sache. Sie setzt sich sehr unter Druck, will alles perfekt machen."

Ja, Emily hat ihren eigenen Kopf, nicht nur bei der Auswahl ihrer Tutus, die alles, nur nicht rosa sein dürfen. "Ich hasse Rosa." Und die kleine Primaballerina in spé weiß genau, was sie will: "Ich liebe es, mich zur Musik zu bewegen und Gefühle tänzerisch auszudrücken. Ich will Profitänzerin werden und irgendwann mal das Solo beim Schwanensee oder Dornröschen auf einer großen Bühne tanzen. Ich könnte mir aber auch modernen Tanz gut vorstellen. Und wenn das alles nicht klappen sollte oder meine Füße nicht mehr mitmachen, dann würde ich gerne als Tanzpädagogin arbeiten."

Es ist 20 Uhr. Die Hausaufgaben sind erledigt. Hinter der Tür zum grünen Saal ist Mädchengekicher zu hören. Es bleibt noch eine halbe Stunde Freizeit, bis auch Emily zur Ruhe kommen und auf ihrem Zimmer sein muss. Diese kostbaren 30 Minuten im Tanzsaal zu verbringen, ist ein Kann. Für die zwölfjährige Emily ein Muss: "Vom Tanzen kriege ich nie genug. Wir wollen für eine Freundin zum Geburtstag etwas einstudieren, aber pssst, das soll eine Überraschung sein."

Kurz vor 20.30 Uhr ist es noch ein letztes Mal zu hören, das monotone Schlurfen auf dem Flur des Palucca-Internats. Für Emily ist es Musik in den Ohren - solange ihre Füße dazu tanzen wollen.