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DDR-Debatte "Zur Anpassung keine Alternative"

Die Lesung des Autors Roman Grafe an einer Stendaler Schule bewegt die
Sachsen-Anhalter. Hunderte Leserbriefe zu Lebenswirklichkeit und Unrecht
in der DDR erreichten die Volksstimme. Hier einige Auszüge.

20.02.2014, 01:20

Magdeburg/Stendal I Manche sind geblieben, wie die Meinungsäußerungen der gegenwärtigen Debatte zeigen. Gut, jeder darf sich heute beliebig äußern, ohne, wie noch vor zweieinhalb Jahrzehnten, unter anderen Vorzeichen, Gefahr zu laufen, verfolgt und schon allein einer bloßen Meinungsäußerung wegen für längere Zeit inhaftiert zu werden.

Das und vieles andere haben diejenigen, die jetzt DDR-Geschichte und das Leben in der DDR zu verklären versuchen, wohl vollständig vergessen bzw. verdrängt.

Sicher, die Zeit und insbesondere der Blick auf die Jugendzeit taucht Vergangenheit, selbst wenn sie es nicht in jeder Hinsicht verdient, in ein rosiges Bild. Das ging auch unseren Eltern schon so mit ihrer Jugend im Dritten Reich.

Doch das sollte nicht zu der Bemerkung führen oder berechtigen, wer sich in einer Diktatur anpasse, könne ein gutes Leben führen. Eine solche Äußerung ist höchst perfide! Auch aufgrund solcher und weiterreichender Einstellungen funktionieren Diktaturen leider immer wieder.

Was soll an der DDR gut gewesen sein? Ich habe sie von Anfang bis Ende durchlebt; 1948 geboren, zunächst als Kleinkind, Kind, Jugendlicher und dann Erwachsener, kann mich aber an kaum Positives, was das System und seine (In-)Doktrination betrifft, erinnern. Sicher, die Jugend war schön, auch oder trotz DDR. Und natürlich, wir haben uns angepasst. Was blieb uns, um existieren zu können, auch anderes übrig? Allerdings musste Anpassung nicht so weit gehen, alles mitzumachen. Für mich beispielsweise wäre ein Eintritt in die mir verhasste SED nie in Betracht gekommen, zu DDR-Zeiten auch in keine der anderen Parteien.

"Wir waren adaptiert, haben das System aber früh durchschaut und verachten gelernt."

In der Schule musste man, um zu bestehen, auch gut in Staatsbürgerkunde, später im Studium in Marxismus-Leninismus (ML), sein. Das funktionierte wie Vokabeln lernen! Man wusste, was gehört werden wollte. Mit Glauben, Akzeptanz oder gar Unterstützung ging das meist nicht einher. Auch wenn man, den Anschein wahrend, Mitglied der FDJ wurde, beispielsweise neben der Konfirmation auch noch Jugendweihe hatte. So schizophren war unser Leben, waren wir - scheinbar - adaptiert, hatten aber dieses auf LUG und Trug gegründete System, den "realen Sozialismus in der DDR", schon früh durchschaut und verachten gelernt.

Sicher, es gab es den ganz normalen Alltag in der DDR. Sonst hätten wir nicht existieren können. Natürlich sind wir gern an die Ostsee, wären aber auch gern einmal an Nordsee oder weiter gen Westen gefahren.

Wladiwostok war für uns näher und erreichbarer als zum Beispiel Hannover oder Westberlin. Dennoch, die Sehnsucht nach Freiheit und Ferne war immer da, auch wenn wir uns, wegen absoluter Unerreichbarkeit, mit der gegebenen Situation scheinbar abgefunden hatten.

Jedem, der denken konnte und mit offenen Augen durch die Welt ging, wurde spätestens Ende der 1970er Jahre bewusst, wie abgewirtschaftet und marode die DDR mittlerweile war, dass es so auf Dauer nicht weitergehen konnte. Alles kaputt, die Häuser und Fabriken verfielen, mit der Wirtschaft ging es mehr und mehr bergab, die Umwelt wurde vergiftet und das so gepriesene soziale System diente vorrangig der Systemsicherung.

Wenn Herr Kurts in der Volksstimme geäußerte Meinung, die große Mehrheit der Bevölkerung hätte die DDR gutgeheißen, zuträfe, hätte es den Herbst 1989, den Fall der Mauer und den friedlichen, von innen erfolgten Zusammenbruch der DDR wohl nicht gegeben.

Zum Glück war und ist es anders, den ewig Gestrigen und auch den diese Vergangenheit in sinnloser bzw. übertriebener Weise Verklärenden zum Trotz!

Nach vorn denkend, sollte uns bewusst sein oder werden, dass die wesentlichen Schwierigkeiten der ostdeutschen Länder, insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit, weder der Bundesrepublik noch der Wiedervereinigung geschuldet sind, sondern dies ein leider länger als gedacht nachwirkendes Erbe der DDR ist!

Doch es geht aufwärts, allen voran in Sachsen, das schließlich bis zum Zweiten Weltkrieg die führende Industrieregion Deutschlands war, durch die DDR abgewirtschaftet wurde und sich inzwischen ganz allmählich erholt. Wollen wir hoffen und alles daransetzen, dass das auch Sachsen-Anhalt gelingt.

Überwunden werden müssen, wie diese aktuelle Debatte zeigt, auch noch manche Barrieren in den Köpfen. Dazu gehört meines Erachtens, dass man sich von den unsäglichen Begriffen Ossi und Wessi trennt. Sie symbolisieren Trennendes und bedeuten unbegründete Andersartigkeit und sollten daher nicht mehr verwandt werden!

Joachim Franke, Stendal

(...) Den Schülern müssen neben Unterrichtsstoff aber auch ansatzweise gesellschaftlich relevante Grundwerte vermittelt werden. Manch Elternhaus ist dabei zuweilen wohl etwas überfordert. Bliebe die Schule. Und da habe ich neuerdings auch so meine Zweifel.

Womöglich wird es an der Schule in Stendal einen Deutschunterricht geben. Vielleicht steht dort auch Autor Heinrich Mann auf dem Unterrichtsplan, vielleicht sogar mit seinem 1948 verfilmten Klassiker "Der Untertan".

Ich spreche an dieser Stelle meine Empfehlung dahingehend aus, dass sich Teile des Lehrerkollektivs der Stendaler Schule, aber auch das Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt in die von Heinrich Mann trefflich illustrierte Problematik mal vertiefend einlesen.

Hans-Reinhard Gläser, Magdeburg

"Sich mit der Stasi anzulegen, ist nicht patriotisch, sondern einfach nur dumm."

Menschen wie Roman Grafe, die andere Meinungen skandalisieren und selbst meinen, die Deutungshoheit über historische Prozesse zu besitzen, sind äußerst problematisch. Dass es unterschiedliche Sichtweisen auf Vorgänge gibt, ist unbestritten. Von Meinungsfreiheit hält dieser Mann nichts. Daher sollte aufgrund seiner Einseitigkeit ein Zeitzeuge wie Herr Grafe nicht die Möglichkeit erhalten, ohne Gegenposition oder Relativierung vor einer Schulklasse zu sprechen.

Axel Schneider, Geschäftsführer der Landesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt e. V., Magdeburg

(...) Sich mit der Stasi anzulegen und zu riskieren, ins Gefängnis gesteckt zu werden bzw. die Kinder in eine Erziehungsanstalt ist meines Erachtens nicht patriotisch, sondern einfach nur dumm. Keine politische Idee ist es wert, das Leben oder die Gesundheit seiner Lieben aufs Spiel zu setzen.

Gerti Kinzel, Magdeburg

(...) Die 16 Millionen, die in der DDR blieben, waren in sehr geringer Zahl Teil des Machtapparates. Sie passten sich den gegebenen politischen Verhältnissen an, um sich dadurch einen möglichst großen privaten Freiraum zu schaffen. Arbeitslosigkeit kannten sie nicht, ideologische Berieselung schon. Aber es gab tatsächlich auch eine kleine Schar respektabler Kommunisten, die ihre Überzeugung lebten und von der eigenen Partei drangsaliert wurden. Allerdings wurde der Machtapparat von Staat und Wirtschaft nach meiner Ansicht hauptsächlich von einer größeren Anzahl an Opportunisten beherrscht, die ihr Fähnchen in den Wind hängten und sich später, als alles vorbei war, als Widerständler gerierten.

Wir sollten nicht vergessen, dass für die Kinder von Arbeitern und Bauern gesellschaftliche Aufstiege ermöglicht wurden, die so in dem anderen Teil Deutschlands nicht möglich waren.

Wer in diesem Lande blieb, hatte zur Anpassung keine Alternative, es sei denn, er wollte seine eigene Existenz oder die seiner Angehörigen aufs Spiel setzen. Allerdings gab es eine winzige Minderheit, die das System reformieren, aber nicht abschaffen wollte. Es war die Rede vom verbesserlichen Sozialismus. Keine von den unterschiedlichen Gruppen repräsentiert allein die DDR-Wirklichkeit. Steine aufeinander zu werfen, hilft uns nicht weiter. Der selbstgerechte Blick auf die 40 Jahre DDR verstellt uns die Wirklichkeit. Jedenfalls hat die Mehrheit meiner ostdeutschen Landsleute eine respektable Lebensleistung hinterlassen. (...)

Hans-Jochen Tschiche, Satuelle

"In der Schule muss man Grafe zuhören, seine Bücher kann man lesen oder nicht."

(...) Es sei dieser Lehrerin unbenommen, dieser Auffassung zu sein. Es sollte jedoch nicht im Interesse unserer Gesellschaft sein, wenn man der Jugend beibringt, dass angepasste Persönlichkeiten am besten durchs Leben kommen - vor allem nicht in einer Situation, in der sie mit politischer Verfolgung konfrontiert werden. (...)

Tino Kanicke, Magdeburg

(...) Natürlich kannten wir keine Tafeln, keine Obdachlosenunterkünfte, keine Arbeitslosen, Hartz IV, keine Kinder- und Altersarmut, keine Zeitarbeitsfirmen, keine Mietwucher, keine ständig steigenden Lebenshaltungskosten. Dafür haben wir heute Konsum im Überfluss, Reisefreiheit, wenn ich es mir finanziell leisten kann, Meinungsfreiheit, wenn sie dann was nützt, Bildungsnotstand, deshalb auch der Bedarf ausländischer Fachkräfte, Ellenbogengesellschaft. Dafür haben in den 1990er Jahren Millionen Menschen im Osten Deutschlands ihre Arbeit, ihre Existenz verloren. (...)

Christine Rische, Hillersleben

(...) Wenn sie nichts anderes zu tun haben, mögen sich alle Institutionen mit der Sache befassen. Hoffentlich ergibt sich daraus die Konsequenz, Herrn Grafe von den Schülern fernzuhalten, statt ihn zu Diskussionsrunden einzuladen, in denen jeder sein demokratisches Recht wahrnehmen darf, das zu sagen, was er will, ohne dass daraus ein Vorfall wird. In der Schule muss man ihm zuhören, in einer öffentlichen Veranstaltung kann man gehen, im Fernsehen kann man abschalten, seine Bücher kann man lesen oder nicht. (...)

Ralph Büttner, Magdeburg

(...) Wie andere auch muss sich Herr Grafe wohl oder übel damit abfinden, dass es Leute gibt, die "sich wohlfühlten in der DDR", "sich an die Regeln gehalten" haben und denen darum "nichts passiert" ist. Aber dass eine Lehrerin so argumentiert, ist nicht hinnehmbar. Unter diesen Bedingungen konnte man sich auch in Nazi-Deutschland "wohlfühlen"! Und es wäre einem überhaupt "nichts passiert", vorausgesetzt, man hielt sich an die damals geltenden "Regeln" ...

Dietmar Anger, Halberstadt

Mein Vater kam körperlich und psychisch krank aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause. Er ging für sein Vaterland in den Krieg. War er ein Verbrecher wie Hitler? Herr Grafe, warum bezeichnen Sie ganz allgemein die DDR als einen Verbrecherstaat? Weil ich nicht verfolgt wurde, studieren konnte und daran glaubte, dass Losungen wie "Alle Macht dem Volke" und "Alles zum Wohl der Menschen" so gemeint waren wie gesagt, bin ich auch ein Verbrecher? Wenn Sie in die Schule gehen und den Kindern Ihr Schicksal schildern, dann ist das eine sehr gute und emotionale Sache, aber dann bitte objektiver und konkreter und nicht alles verallgemeinern. (...)

Veronika Schilling, Havelberg

(...) Wie groß muss eigentlich die Angst vor dem Schreckgespenst Kommunismus sein? Man kann der DDR wohl nicht verzeihen, Hand an das Privateigentum an Produktionsmitteln angelegt zu haben, in den Augen von Kapitalisten das schwerste Verbrechen. (...)

Wilhelm Holländer, Magdeburg

"Du musst die Ideologie des Staates vermitteln, in dem Du lebst - heute wie in der DDR."

(...) Das wird die Lehrerin bestimmt noch teuer zu stehen kommen, denn als Lehrer musst Du die Ideologie des Staates vermitteln, in dem Du lebst. Dafür wirst Du bezahlt, heute wie damals in der DDR. (...)

Norbert Pfahl, Hobeck

(...) Der in den Fokus geratenen Lehrerin aber spreche ich meine Achtung aus. Sie hat ganz schlicht und einfach die Wahrheit gesagt. Und das erfordert heute leider schon Mut. Es war wirklich nicht alles schlecht in der DDR. Wenn das schon Verklärung sein soll, dann kann ich nur verständnislos den Kopf schütteln.

Dieter Hainke, Magdeburg