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Ukrainer in Sachsen-Anhalt Zorn, Gebete und immer wieder Tränen

Von Oliver Schlicht 22.02.2014, 02:46

Magdeburg/Kiew l Die Nachrichten von den Zusammenstößen auf dem Maidan-Platz in Kiew sind für Ukrainer in Sachsen-Anhalt nur schwer zu ertragen. Auch wenn sich ihre politischen Anschauungen unterscheiden - es vereint sie die Sorge um Freunde und Familien.

Eine Kirche mit Turm und Kanzel ist es nicht. Aber über dem Eingang der alten Villa in der Magdeburger Lienhardstraße hängt ein Mutter-Maria-Bild mit Jesuskind. Die Frau mit dem Kopftuch, die gerade zum Gottesdienst will, schlägt das Kreuz und verbeugt sich, bevor sie die Haustür öffnet. Etwa 20 orthodoxe Christen - überwiegend osteuropäische Einwanderer - haben sich im großen Festraum versammelt: viele ältere Frauen, aber auch junge Mütter und ein paar Männer.

Vater Boris Ustimenko, Erzpriester der russisch-orthodoxen Kirche von Magdeburg, bereitet sich hinter der reich mit Ikonen verzierten hölzernen Altarwand auf den Gottesdienst vor. Er nimmt sich Zeit für ein kurzes Gespräch. "Ich selbst komme aus der Ukraine, meine Mutter lebt dort. Und etwa die Hälfte unserer Gemeinde ist von dort", erzählt er. Die Menschen seien verunsichert und in Sorge über die Bilder, die im Fernseher zu sehen sind. Jeden Abend um 18 Uhr kommen die Ukrainer zusammen, um gemeinsam zu beten. "Mal kommen nur zehn, manchmal kommen am Wochenende 40", erzählt der Vater.

Ihn, "und auch viele andere in der Gemeinde", stört die einseitige Berichterstattung in den deutschen Medien. Von einem Volksaufstand könne in der Ukraine keine Rede sein. "Ich habe Mitte der 1990er Jahre in Tschetschenien gelebt. Die Situation in Kiew erinnert mich sehr daran." Unter die Demonstranten hätten sich Terroristen und Nationalisten gemischt, die nur auf Gewalt aus seien. "Die extremen Rechten haben bei der letzten Wahl zehn Prozent erreicht. Die nutzen die Lage jetzt aus. Das sind gut trainierte Banden von zehn bis 15 Leuten, die dort unterwegs sind. Davon berichtet das Fernsehen leider nicht", beklagt Vater Boris.

Telefonverbindungen sind sehr häufig gestört

Die Tür öffnet sich. Auch andere Ukrainer kommen hinzu und möchten am Gespräch teilnehmen. Einem alten Mütterchen stehen die Tränen in den Augen, weil die Telefonverbindungen in die alte Heimat sehr häufig gestört sind. Ein junger Mann berichtet aufgeregt, dass schon 14-Jährige von Oppositionellen und auch von Regierungstreuen umworben werden, damit sie mit durch die Straßen ziehen.

Anna Krasotina, geschiedene Mutter von zwei Kindern, gibt ihrem Priester Recht, was die Nationalisten betrifft: "In den Winterferien war ich in Lemberg in der West-Ukraine zu Besuch. Da hingen in vielen Straßen Fahnen von der alten ukrainischen SS-Division ,Galizien`. Und der Polizei haben sie dort die Waffen weggenommen." Sie sei sehr in Sorge um eine Freundin, die mit ihrer 15-jährigen Tochter in Kiew lebt. Die arbeitet im Stadtzentrum in einer Bank. "Aber sie spricht besser russisch als ukrainisch, deshalb traut sie sich mit ihrer Tochter nicht mehr auf die Straße." Nein, sagt Anna Krasotina, sie sei garantiert kein Fan der Regierung in der Ukraine. "Aber das geht zu weit. Mit meinen Kindern kann ich in Magdeburg in der Straßenbahn auch russisch sprechen. Und niemand stört sich daran."

Vater Boris steht auf. Genug gesprochen. Er geht in den Festraum. Sein blau-goldener Umhang raschelt leise. "Wir werden für den Frieden beten und für die Versöhnung durch Liebe. Die Regierung und das Volk müssen wieder zusammenkommen", sagt er und nimmt die prunkvoll eingeschlagene Bibel zur Hand. Seine einfache Botschaft wird verstanden. Die Frauen singen. Die orthodoxe Liturgie beginnt. Der Weihrauch verbreitet einen betörenden Geruch. Kerzen werden angezündet für die Toten. Für alle Toten von Kiew.

Trauergottesdienst im Magdeburger Dom

Ortswechsel. Im Dom laden die Domgemeinde und ukrainische Regierungsgegner zu einem Gespräch ein. Auf dem Podium sitzen neben dem Domprediger Giselher Quast unter anderem die Magdeburger Künstlerin Galina Brieger und ihr Sohn, Yevgen Mykhalchenko. Vor dem Gespräch werden auch im Dom Kerzen angezündet - für die Toten von Kiew. Ukrainer aus Sachsen-Anhalt wollen mit der Domgemeinde und allen Sympathisanten morgen einen Trauergottesdienst begehen.

Im Dom werden die namenlosen Berichte über Erschossene aus den TV-Nachrichten Gesichter bekommen. "Wir wollen Fotografien von Menschen ausstellen, die in den vergangenen Tagen auf dem Maidan-Platz umgekommen sind. Das sind keine Terroristen und Nazis. Das sind Menschen, die es satt hatten unter den menschenunwürdigen Bedingungen dort zu leben", sagt Mykhalchenko.

Seine Mutter, Galina Brieger, ist froh, sagt sie, dass sie seit 25 Jahren in Magdeburg glücklich leben kann. "In meiner alten Heimat bekommt meine Mutter umgerechnet 150 Euro Rente. Das reicht nicht einmal für die Medikamente, die sie so dringend braucht", erzählt sie. Und dann verliert die schwarz gekleidete Frau die Fassung. Galina schluchzt bitterlich bei dem Gedanken an ihre Mutter, die in einem Dorf unweit von Kiew lebt. "Sie hat sich das Bein gebrochen. Aber selbst im Krankenhaus muss jede Spritze und sogar die Bettwäsche bezahlt werden", schimpft sie zornig. Ein Arzt verdiene umgerechnet nicht mehr als 200 Euro im Monat.

Bei Mykhalchenko schwingt große Bitternis mit, wenn er über die vergangenen Tage erzählt. "Ich habe sehr gute Kontakte, das können sie mir glauben. Es ist unfassbar. Krankenwagen werden gezielt in Brand gesteckt. Scharfschützen haben sogar Helfer erschossen, die Verletzte bergen wollten."

An eine Befriedung durch Neuwahlen glaubt der Ukrainer nicht. "Die Proteste hören erst auf, wenn Präsident Janukowytsch zurückgetreten ist. Jeden Monat, der bis zu Neuwahlen vergeht, wird er nutzen, um seinen Apparat in Stellung zu bringen."