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Ein Schweizer führt den Kampf gegen Schulschließungen an Schul-Proteste: Der Stratege im Hintergrund

Im Kultusministerium waren zur Schließung von Sachsen-Anhalts kleinsten
Grundschulen bereits alle Weichen gestellt. Dann machte jemand einen
Fehler: Er nahm Walter Helbling nicht ernst. Jetzt hat der
Kultusminister einen Quälgeist im Nacken.

Von Hagen Eichler 22.03.2014, 02:23

Welbsleben l Nur aus Neugier ist Walter Helbling im vergangenen Sommer in die Grundschule Frose gefahren. Das Kultusministerium wollte über die Zukunft der Einrichtung sprechen. Zwischen den Vätern und Müttern saß dann auch Helbling, gelernter Grundschullehrer aus der Schweiz und vor kurzem nach Sachsen-Anhalt gezogen. Die Eltern ahnten schon, was kommen würde, und dennoch traf es sie: Die Schule wird geschlossen. Sie sei zu klein, hieß es, Sachsen-Anhalt gebe zu viel Geld aus für Mini-Schulen.

Weil Helbling aber die Schweiz kennt, wo es noch viel kleinere Schulen gibt, machte er einen Vorschlag. Man könne ja die Klassen 1 und 2 sowie 3 und 4 zusammenfassen und gemeinsam unterrichten. Dadurch spare das Land Lehrerstellen und könne die Schule erhalten. Die Antwort des Ministeriumsmitarbeiters fiel knapp aus. "Das ist ja Schule aus dem letzten Jahrhundert, hat er gesagt", erinnert sich Helbling. Eine folgenreiche Antwort. Denn an diesem Abend entschied Helbling, den Kampf mit dem Kultusminister aufzunehmen.

Politischen Einfluss hatte er nicht. Dafür aber viel Zeit.

Nicht, dass der Zugezogene politischen Einfluss gehabt hätte. Der Frührentner lebt im abgeschiedenen Dorf Welbsleben (Mansfeld-Südharz), gehört keiner Partei an, hatte keine Kontakte zu wichtigen Leuten. Helbling spricht mit schwerem Schweizer Akzent, er sagt "Stadthaus" statt Rathaus, spricht von "Kommission", wenn er einen Landtagsausschuss meint, und gelegentlich rutscht ihm für die CDU der Name ihres schweizerischen Pendants CVP heraus. Wer ihn deshalb nicht ernst nimmt, macht dennoch einen Fehler. Denn Helbling ist finanziell unabhängig und hat viel Zeit. Einen Teil seiner Rente hat er sich bar auszahlen lassen. Und in Deutschland sind die Lebenshaltungskosten für einen Schweizer niedrig.

"Ich habe den Luxus, dass ich Zeit für etwas investieren kann, was mich interessiert", sagt Helbling. Mittlerweile betreibt er den Kampf für die kleinen Grundschulen als Vollzeit-Job. Er ist die treibende Kraft hinter dem Aktionsbündnis "Grundschulen vor Ort". Zusammen mit wenigen Mitstreitern schreibt er in seinem Blog unermüdlich Appelle an die Eltern im Land, sich zu wehren. Immer wieder warnt er vor dem Niedergang der Dörfer, wenn die Schule einmal geschlossen ist. Die heißeste Phase seines Kampfes liegt noch vor ihm: Ende Mai ist Kommunalwahl. Helbling will Wahlkampf machen, genauso wie die Parteien. Für wen? "Für die Kinder", sagt er.

Helbling ist ein politischer Mensch. Doch er nimmt auf eine Weise Einfluss, die es vor ein paar Jahren noch nicht gab. Nicht geben konnte: Nur durch das Internet ist es möglich, in kürzester Zeit so viele lokale Initiativen zu erreichen, zu vernetzen, anzuleiten. "Das ist das Faszinierende!", ruft Helbling, "ich kann stundenlang recherchieren, ich kann per E-Mail Anfragen stellen, ich brauche kein Werbe-Budget."

Helbling darf in Sachsen-Anhalt als Schweizer noch nicht einmal wählen. Dennoch hat er beim Thema Schulschließungen so viel Druck erzeugt wie kein anderer. Belege dafür flattern im ganzen Land an Schulen und Gartenzäunen: Das Aktionsbündnis hat dazu aufgerufen, als Zeichen des Protests bunte Stoffstreifen aufzuhängen. Im Städtchen Sandersleben, wenige Kilometer von Helblings Heimatdorf entfernt, ist das alte Rathaus mit Wimpeln geschmückt, an die Äste eines Baumes hat jemand Stoffstreifen geknüpft. "Das war ein 65-Jähriger, der da hochgeklettert ist", amüsiert sich Helbling. Eine Bewegung aus dem Netz verändert die reale Welt, zumindest ein wenig.

Die kleinen Schulen sind nicht das erste Thema, in das sich Helbling verbeißt. 2010 elektrisiert ihn der Skandal um Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche. Helbling, katholisch getauft, aber kirchenkritisch, mischt sich mit einem Blog ein. Von der Türkei aus, wo er mit seiner Frau damals lebt, kommentiert er die Nachrichten aus Deutschland, fordert Aufklärung und Entschädigung für die Opfer. "Das ist so ein Defekt bei mir, dass ich mich weit aus dem Fenster lehne, wenn ich etwas Ungerechtes sehe."

Auch das Schloss war schon fast abgerissen und steht dennoch.

Heute ist seine Durchschlagskraft ungleich stärker, denn sein Schul-Blog vernetzt Protest-Initiativen in vielen Gegenden des Landes. Die Aktivisten schreiben an Politiker, sammeln Klicks für eine Online-Petition, üben in Kreistags- und Stadtratssitzungen Druck aus. Wie lange will Helbling das noch machen? "Die Landtagssitzung am 27. März und die Kommunalwahlen im Mai sind die Nahziele. Im Bündnis blicken sie schon auf die Landtagswahl 2016, aber das ist mir zu weit weg." Helbling ist verheiratet, irgendwann dürfte sein Aktivismus auch seiner Frau auf die Nerven gehen. "Die letzten drei Wochen waren grenzwertig", gibt er zu.

Wer Helbling durch dessen neue Heimat begleitet, kommt am Dorf Wiederstedt vorbei. In den 80er Jahren bröckelte dort die Ruine von Schloss Oberwiederstedt, einst Besitz der Familie von Hardenberg und Geburtsort des Dichters Novalis. "Der Abriss war schon beschlossen, da haben sich Mitte der 80er Jahre einige widersetzt", erzählt Helbling. "Die haben die SED ausgetrickst, um Baumaterial zu bekommen." Die aufmüpfigen Menschen von Wiederstedt haben ihr Schloss gerettet.

Gut möglich, dass Helbling diese Geschichte nicht rein zufällig erzählt.