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Forum in Stendal: "Zur Anpassung keine Alternative?" Zwischen Wehrkunde und Streuselkuchen

Die Debatte um Äußerungen einer Stendaler Lehrerin zur DDR war Anlass für eine Podiumsdiskussion im Theater der Altmark. Für Aufregung sorgte eine Bemerkung zum Wehrkundeunterricht von GEW-Chef Thomas Lippmann.

Von Oliver Schlicht 24.03.2014, 02:32

Stendal l Etwa 100 Zuschauer füllten den Kleinen Saal des Theaters der Altmark (TdA) am Sonnabend bis auf den letzten Platz. Die Volksstimme und das Theater hatten geladen. Das Interesse an Meinungsäußerungen zum Leben in der DDR scheint - vor allem bei der älteren Generation - ungebrochen. Anlass für die Diskussion und auch viele Leserbriefe war der Streit um Äußerungen einer Lehrerin der Hansestadt im Zusammenhang mit einer Buchlesung ("Wenn man sich in Diktaturen an die Regeln hält, passiert einem nichts").

"Doch es soll heute nicht um diese Schulauseinandersetzung, sondern um die DDR als solche gehen", sagte eingangs Marc Rath, Leitender Redakteur der Volksstimme, der mit Claudia Klupsch vom TdA den Abend moderierte.

Auf die Frage, wann der Einzelne das System zu DDR-Zeiten durchschaut habe, antworteten die Gesprächsteilnehmer unterschiedlich. Für Tilmann Tögel, seit 1990 im Landtag für die SPD, waren das die Momente, als wieder ein Elternbesuch anstand, weil "ich in der Schule meine Klappe nicht halten konnte". Es sei ein langer Lernprozess gewesen, anders zu reden als zu denken, so der Politiker. Die Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, Birgit Neumann-Becker, machte ihren Bruch mit dem System an einem Moment fest, als sie drei Polizisten gegenübersaß, die sie zwangen, ihren "Schwerter zu Pflugscharen"-Aufnäher zu entfernen.

Thomas Lippmann, Landes-Chef der Lehrergewerkschaft GEW, bekam die "Krallen des Systems zu spüren", als er im Lehrerzimmer Thesen zum Ethos des Lehrers an eine Wandzeitung geheftet hatte.

Zum Thema, was gut in der DDR war, führte Lippmann das DDR-Bildungssystem an. "Wir profitieren bis heute vom guten Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern. Vorbildlich war auch das Kinderbetreuungssystem." Wer den Wehrkundeunterricht in der DDR beklage, verkenne, dass sich Schule immer in der Schnittstelle zu anderen gesellschaftlichen Bereichen befindet. "Heute führen wir aktuell eine Debatte, ob die Bundeswehr an der Schule werben darf", zog Lippmann einen gewagten Vergleich - und erntete empörte Äußerungen bei den Zuschauern. "Wenn ich diese unzulässige Bemerkung höre, kann ich nachempfinden, dass sich Opfer des Systems noch einmal gedemütigt fühlen", so ein Zuschauer unter Beifall. Ein anderer fügte hinzu, dass man sich eben heute frei einer Bundeswehr-Beeinflussung an der Schule entziehen könne, was für den Wehrkunde-Unterricht in der DDR nicht gegolten habe.

Prof. Ulrich Nellessen, Leiter des Johanniter-Krankenhauses Genthin-Stendal, stammt als einziger auf dem Podium aus den alten Bundesländern. Er warb um Verständnis für Menschen, die ein normales Leben abseits einer offenen politischen Auseinandersetzung in der DDR geführt haben. "Keiner wird geboren, um ein Held zu sein. Sich anzupassen ist, auch ein Stück Lebensweisheit. Auch als Schutz gegenüber der eigenen Familie", sagte er. Ein Zuschauer im Saal fühlte sich von dieser Lebenshaltung provoziert. "Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht", setzte er dem Professor entgegen.

Neumann-Becker warnte davor, Menschen in Täter, Opfer und Mitläufer einzuteilen. "Die Frage ist doch, wo ist am Ende meine rote Linie, die nicht überschritten werden darf." Aus diesem Grund sei heute die Gewissensbildung und Werteerziehung ein wichtiges Thema.

Gibt es eine geteilte Wahrnehmung der DDR beim Blick zurück, unabhängig von einer Ostalgie-Verklärung? SPD-Politiker Tilmann Tögel bemühte einen "etwas spaßig gemeinten" Vergleich, wie er sagte: "Der Blick auf den Sklavenhalterstaat ist schon sehr davon abhängig, ob man Sklave oder Gutsbesitzer ist." Neumann-Becker formulierte es so: "Niemand will ein in Grenzen normales Leben in Abrede stellen. Es gab leckeren Streuselkuchen und schöne Sommerabende. Aber mit der DDR hat das nichts zu tun."

Eine Diskussion mit Zuschauern kam an diesem Abend kaum in Gang. Das Zuhören stand mehr im Mittelpunkt. Ein Pfarrer im Publikum fand das gerade verdienstvoll. "Nicht immer negieren, was der andere sagt, sondern zuhören können. Das brauchen wir in der DDR-Debatte", sagte er. Dazu war der Abend in Stendal ein wichtiger Beitrag.