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Hinter den Kulissen Die rettende Stimme aus dem Hintergrund

Ist das eine Kunstpause oder ein Texthänger? Sigrid Hoelzke-Wittig kennt
den Unterschied. Die Souffleuse am Theater Magdeburg springt sofort
ein, wenn die Schauspieler mal nicht weiterwissen. Ihre Arbeit fängt
allerdings schon lange vor der Premiere an.

Von Nadine Liese 24.04.2014, 01:17

Magdeburg l Der Vorhang geht auf, und Gretchen tritt in Erscheinung. Sie stockt kurz und beginnt ihren Text aus Goethes Faust vorzutragen, allerdings in der falschen Reihenfolge. Das Publikum bemerkt zunächst nichts, aber eine aufmerksame Frau im Schatten neben der Bühne ist alarmiert. Nach ein paar Sekunden erkennt Gretchen ihren Fehler jedoch selbst, fängt sich wieder und fährt mit dem richtigen Wortlaut fort. Sigrid Hoelzke-Wittig kann sich wieder entspannen - dieses Mal musste sie nicht einschreiten. "Der Mensch ist ein Gewohnheitstier", sagt die Souffleuse. "Bei der Vorstellung von `Faust` war die Ankleiderin krank, und eine Aushilfe hat die Künstler umgezogen - das hat Gretchen unbewusst so irritiert, dass sie gleich zehn bis fünfzehn Verse im Text vorgesprungen ist."

Doch woran sieht sie, dass jemand einen Texthänger hat? "In den Augen oder am Mundwinkel", verrät Sigrid Hoelzke-Wittig. In den vergangenen 32 Jahren hat sie ein gutes Gespür dafür entwickelt, sofort zu erkennen, wenn ein Schauspieler ins Stocken gerät. Zwar funktioniert jede Vorstellung wie ein Uhrwerk, alles ist genau durchgeplant - doch manchmal geht eben doch etwas schief. Ein Requisit liegt zum Beispiel am falschen Platz. Diese Kleinigkeit kann ausreichen, um den Schauspieler auf der Bühne abzulenken, und schon hat er seinen Einsatz verpasst.

Die Kunst des Soufflierens besteht darin, in solch brenzligen Situationen genau zu wissen, wie die Kollegen auf der Bühne ticken und welche Art von Hilfe sie jetzt brauchen. "Jeder Schauspieler ist anders: Manchen reicht es, wenn ich ihnen das Hauptwort der Szene zuflüstere, andere brauchen nur die ersten zwei Wörter des vergessenen Satzes", sagt die gebürtige Berlinerin. Doch während der Vorstellungen passiert das eher selten. Von ihrem Platz aus, versteckt neben dem Feuerwehrmann in der Vorhanggasse, dient die Souffleuse den Darstellern vor allem als psychologische Stütze. "Eigentlich können die alle ihren Text. Ich bin nur das Sicherheitsnetz, das sie zur Not auffängt, bevor sie ins Fallen geraten", erklärt sie. Trotzdem muss Sigrid Hoelzke-Wittig jede Minute wach sein und immer Blickkontakt zu den Künstlern auf der Bühne haben, egal ob sie einen fünfminütigen Monolog halten oder nur einen Satz sprechen. "Einnicken ist da nicht. Ich muss für die Schauspieler immer präsent sein."

Auch die richtige Lautstärke zu treffen ist Übungssache. Die Schauspieler müssen die Souffleuse verstehen, das Publikum darf sie aber nicht hören. Beigebracht hat sich die 58-Jährige das alles selber. Eine Ausbildung für diesen Beruf gibt es nämlich nicht.

Die meisten Souffleure haben schon vorher am Theater gearbeitet. Viele sind ehemalige Tänzer - Sigrid Hoelzke-Wittig war früher Dramaturgin und wurde nach der Wende zunächst Regie-Assistentin. Dazu gehörte auch manchmal das Soufflieren während der Proben. Heute arbeitet sie nicht nur fürs Schauspielhaus, sondern auch ab und zu fürs Musiktheater.

Hier ist ihre Verantwortung noch wesentlich größer. Die jeweiligen Text-Anfänge der musikalischen Phrasen werden fast durchgängig zugerufen, und zwar zeitversetzt und viel früher und lauter als im Schauspiel. "Bei einer Oper muss man viel Stimme haben, um das Orchester zu übertönen", erzählt die ehemalige Dramaturgin. "Nach meinem ersten Versuch war ich richtig heiser."

Erhöhte Aufmerksamkeit ist beim Musiktheater ebenso gefragt, da die Souffleuse sowohl den Text als auch die Noten von mehreren Sängern gleichzeitig verfolgen muss. Da so ein Notenbuch für die Oper einiges wiegt, hat sich Sigrid Hoelzke-Wittig irgendwann selbst einen Bauchladen mit integrierter Leselampe gebastelt, auf dem sie die Wälzer während der Vorstellungen ablegen kann. Ein leichter Tablet-PC ist für sie keine Alternative. "Was mache ich denn, wenn das Ding plötzlich ausgeht? Da bin ich ganz altmodisch und verlasse mich lieber auf meine Notizen."

In ihren Aufzeichnungen sind einige Stellen mit Symbolen gekennzeichnet. Ein Häkchen bedeutet zum Beispiel "Pause". Ein Bindestrich mit einem Punkt dahinter heißt "lange Pause". So weiß die Souffleuse genau, wann die Schauspieler ganz bewusst einen Spannungsmoment einbauen. Auch die Stellen, an denen die Künstler häufig Texthänger in den Proben hatten, sind markiert.

Um diese Kenntnisse zu besitzen, ist die 58-Jährige vom ersten Probetag bis zur Premiere eines Theaterstücks oder einer Oper mit dabei. Gerade am Anfang hilft sie vielen Schauspielern, ihren Text zu lernen.

Dass sie bei ihrer Arbeit nie selber im Rampenlicht steht, macht der Souffleuse nichts aus. Manchmal wünscht sie sich aber Mäuschen im Zuschauerraum spielen zu können, um zu wissen, warum das Publikum an bestimmten Stellen lacht. "Ich sehe ja nie die Reaktion der Leute. Das macht mich schon neugierig." Trotzdem mag sie ihren Platz am Rand der Bühne. "Ich liebe Literatur, vor allem von Goethe, Schiller oder Büchner", sagt Sigrid Hoelzke-Wittig. "Es ist spannend zu sehen, wie diese Texte im Prozess bis zur Premiere langsam Gestalt annehmen."