1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Mit Mama in der Tram - den ganzen Krieg

Erster Weltkrieg Mit Mama in der Tram - den ganzen Krieg

Die kleine Ellie aus Magdeburg fährt Straßenbahn - den ganzen Tag lang,
die ganze Kriegszeit hindurch. Eine Fahrt, auch durch Kälte und Hunger.
Ellie wurde Kriegswaise mit nur sechs Wochen. Mama ist allein mit ihr
und muss arbeiten - als Schaffnerin.

Von Oliver Schlicht 13.05.2014, 03:20

Magdeburg l Als die Welt gerade aus den Fugen zu geraten beginnt, hatte Frieda Lauer aus Magdeburg einen dicken Bauch. Es war das erste Kind der kleinen zierlichen Frau, das im Sommer 1914 das Licht der Welt erblickte. Eigentlich schien alles perfekt: Die Heirat mit ihrem Mann Karl und nun das Kinderglück: ein Mädchen mit Namen Ellie.

Ein letzter Kuss auf die Stirn

Kaum hat die kleine Magdeburgerin den ersten Schrei getan, da schnürte ihr Vater aber seinen Soldatenranzen. Mobilmachung. Der Krieg ruft. Das große Abenteuer für Kaiser und Vaterland. Auch Karl folgte diesem Ruf. Bestimmt hat er seinem kleinen Wurm noch einen letzten Kuss auf die Stirn gedrückt, seine Frieda in den Arm genommen. Dann ist er los vom Hauptbahnhof aus, wo die Truppensammelstellen eingerichtet waren auf dem Weg an die Front.

Karl fuhr nach Frankreich. Seine Reise in den Tod dauerte nur sechs Wochen. Nur wenige Tage später bekam Ehefrau Frieda das offizielle Schreiben. Gefallen an der Westfront. Die junge Frau war eine der ersten Kriegswitwen von Magdeburg.

Die Enkelin von Frieda Lauer, Gisela Franzen, lebt heute noch in Magdeburg. "Sie war ganz allein mit dem Kind. Und so sollte es auch 14 Jahre lang bleiben", erzählt sie. Alleinstehend mit Baby zum Beginn des Ersten Weltkrieges - für eine Frau war das zu dieser Zeit ein schlimmes Schicksal. Denn es sollten entbehrungsreiche Kriegsjahre werden. Auch in Magdeburg wurden ab 1916 wegen der permanenten Lebensmittelknappheit die Nahrungsmittel rationiert. Missernten und der Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft durch die Einberufungen der Männer hatten die Versorgungslage vor allem in den größeren Städten zusammenbrechen lassen. Der Winter 1916/17 sollte als "Kohlrübenwinter" in die Geschichtsbücher eingehen. Kartoffeln gab es kaum noch.

Frieda Lauer musste sich eine Geldeinnahmequelle suchen. Sie hatte Glück und fand Arbeit als Schaffnerin der "Magdeburger Straßen-Eisenbahn-Gesellschaft". Seit der Jahrhundertwende fuhr die Tram sogar mit elektrischem Strom durch die Elbestadt. Enkelin Gisela erinnert sich heute an die Erzählungen ihrer Mutter, der damals noch kleinen Ellie. "Meine Oma wusste ja nicht, wohin mit ihr. Deshalb hat sie das Mädchen einfach in die Straßenbahn zur Arbeit mitgenommen." So fuhr Ellie im Winter wie im Sommer den ganzen Tag durch Magdeburg - auf harten Holzbänken, über das damals noch holprige Schienenbett im weitgehend offenen Waggon.

Gisela Franzen hat noch ein Bild aus dem Jahr 1917. Es zeigt das inzwischen dreijährige Mädchen an der Hand ihrer Mutter vor einem Bahnwagon der Linie 5. Das Mädchen hat ein helles Kleidchen an, die Mutter trägt den Uniform-Rock der Straßenbahn-Gesellschaft. Die Linie 5 durchquerte Magdeburg damals vom Norden in den Süden der Stadt auf einer Länge von etwa acht Kilometer.

Die Fahrt zurück ins Lebensglück für Schaffnerin Frieda Lauer dauerte 14 Jahre. 1928 hat sie erneut geheiratet - den Magdeburger - na, was wohl: Straßenbahn-Fahrer Willi Küchendorf. "Sie sind dann später beide gemeinsam mit der Bahn die Strecke vom Hauptbahnhof nach Schönebeck gefahren", erzählt Gisela Franzen. Ihre Mutter - Ellie, die kleine Kriegswaise - schenkte ihr 1940 im Alter von 26 Jahren das Leben. Da war schon wieder Krieg.