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Rechtsextreme weitgehend unorganisiert Neonazis: Szene trifft sich lieber zu Hause

Die Rechtsextremen in Sachsen-Anhalt sind unstrukturiert, aber dadurch nicht minder gefährlich. Laut Verfassungsschutz steigt vor allem die Zahl der nicht an Parteien gebundenen Neonazis im Land. Sie treffen sich immer häufiger lieber zu Hause statt im Szene-Club.

Von Matthias Fricke 09.08.2014, 03:22

Magdeburg l Lautstark dringt in dieser Woche in der Nacht zum Dienstag Musik aus dem offenen Fenster eines Mehrfamilienhauses in der Burger Innenstadt. Die Texte sind eindeutig. Unter anderem heißt es: "Wir machen Juden platt". Den Nachbarn reicht es. Sie rufen gegen 1 Uhr die Polizei. Als die Beamten eintreffen, ist die Musik zwar schon aus, aber der 20-jährige und 29-jährige Burger sitzen noch in der Wohnung. Beide behaupten, sie hätten nur Hans Albers gehört.

Die Polizei beschlagnahmt die CD und lässt sie später im Landeskriminalamt analysieren. Ermittelt wird wegen Volksverhetzung. Bisher sind die jungen Männer der Polizei wegen ähnlicher Delikte noch nicht aufgefallen. Erst drei Wochen zuvor haben die Beamten ebenfalls in der Burger Innenstadt sechs feiernde bekannte Rechtsradikale beim gemeinsamen Hören von Musik mit ausländerfeindlichem Inhalt erwischt. Bei den 19- bis 26-Jährigen wurden CDs und ein Rechner sichergestellt.

Für Kriminaloberkommissar Norman Kubbe, Leiter des polizeilichen Staatsschutzes im Jerichower Land, gehören solche Einsätze in Wohnungen schon fast zum Alltag. "Es gibt keine festen Strukturen. Im Landkreis existiert noch nicht einmal ein Szene-Treff", so der Staatsschützer. Der Gesinnungsaustausch erfolgt wohl deshalb immer öfter in der Wohnung oder im Garten.

Das war nicht immer so. Bis Mitte 2008 strömten zum Beispiel in Genthin Rechtsradikale in ein "Nationales Jugendzentrum", eine Baracke im Gewerbegebiet. Der Treff hatte damals auch Neonazis aus Brandenburg angezogen. Inzwischen ist es mangels Strukturen eher umgekehrt.

"Wir wissen nicht, wo sie sich am nächsten Wochenende aufhalten könnten." - Norman Kubbe, Ermittler

Trotz der fehlenden Strukturen zählt der Verfassungsschutzbericht rund 100 aktive Rechtsextreme allein im Jerichower Land. Auf diese hohe Zahl kommt nur noch der Burgenlandkreis im Süden Sachsen-Anhalts. Das Hauptproblem der Staatsschützer: Die zersplitterte Szene sei kaum zu kontrollieren. "Wir wissen einfach nicht, wo sie sich am nächsten Wochenende aufhalten", sagt Norman Kubbe.

Ähnlich wie im Jerichower Land sieht es auch in anderen Regionen Sachsen-Anhalts aus. So ist die rechtsextremistische Szene auch im Harz unstrukturiert.

Der Leiter des Staatsschutzes im Harz-Revier, Kriminalrat Jürgen Dietrich: "Seit dem schwindenden Einfluss der NPD ist auch hier die Szene zersplittert."

So verzog die bekannte Führungsfigur Michael Schäfer nach Sachsen. Der gebürtige Elbingeröder Matthias Heyder taucht in der Öffentlichkeit kaum noch auf. Er war 2011 für den Landtag angetreten und scheiterte. In diesem Jahr kandidierte der NPD-Mann noch einmal für den Kreistag, zog aber nicht ein.

Aktivitäten der rechten Szene, wie Demonstrationen oder andere öffentliche Auftritte, gibt es im Harz kaum noch. Was aber nicht heißt, dass die Rechten untätig sind.

Erst Anfang dieser Woche haben Unbekannte mehr als hundert Aufkleber in der Innenstadt von Wernigerode verteilt. Der Inhalt lautet unter anderem "NS-Zone, Deutschland Multikulti - Wir bleiben braun!" und "Israel vernichten". Dahinter soll nach Erkenntnissen der Ermittler eine neue Aktionsgruppe stehen. Sie bezeichnen sich als "Nationale Sozialisten Nordharz". Auf der eigenen Internetseite zeigen die Neonazis sogar Fotos von sich, wie sie eine Stadt mit den Aufklebern bepflastern. In diesem Fall Goslar in Niedersachsen. Wie viele Mitglieder diese länderübergreifende Aktionsgruppe hat, ist noch unklar. 128 Freunde hat das Facebook-Profil der Nordharzer aber inzwischen schon. Die Vernetzung im Internet funktioniert.

"Die Organisationsformen der Rechten aus den 90er Jahren gibt es so gut wie nicht mehr." - Hilmar Steffen, Verfassungsschutz

Rechtsextremismus-Experte Hilmar Steffen beim Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt: "Die Organisationsformen der Rechten aus den 90er Jahren gibt es so gut wie nicht mehr. Sie vernetzen sich jetzt viel besser im Internet und agieren spontan." Aktionsgruppen und Kameradschaften entstehen spontan und können auch genauso schnell wieder verschwinden. Dies stelle vor allem die Sicherheitsbehörden vor neue Herausforderungen.

Zudem sei die gesamte Szene in Sachsen-Anhalt offenbar im Umbruch. Es gebe einen Riss zwischen alter und neuer Generation. Daran sind offenbar auch schon die NPD und die JN als deren Nachwuchsorganisation im Land gescheitert.

Bei den Kameradschaften sieht es ähnlich aus. Führungskräfte, denen es gelingt, Leute um sich zu scharen, sind im Moment in Sachsen-Anhalt so gut wie nicht vorhanden. Wohl auch aus diesem Grund haben die Gruppen überschaubare Größenordnungen von 15 bis 25 Personen, die sich lieber in Wohnungen und Schrebergärten treffen, als in JN-Stützpunkten oder einem "Nationalen Treff".

"Die Kameradschaften lösen sich auf oder benennen sich schneller als früher um." - Martin Burgdorf, Extremismusexperte

Dennoch gibt es auch weiterhin die aktiven Neonazis, deren Zahl sogar ansteigen soll (Infokasten). "Sie organisieren sich eben nur anders. Die Kameradschaften lösen sich auf oder benennen sich schneller um als früher", erklärt Martin Burgdorf vom Regionalen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt Nord beim Verein Miteinander.

Noch vor einigen Jahren waren die Freien Nationalisten Altmark West als Zusammenschluss mehrerer Freier Kameradschaften im Altmarkkreis Salzwedel straff organisiert. Inzwischen taucht der Name kaum noch auf. Die Internetseite ist inaktiv.

Dafür machte im vergangenen Jahr eine andere Gruppe von sich reden. Die "Nationalen Sozialisten Altmark" (NSA) sollen nach Erkenntnissen Burgdorfs auch für die Serie von rechtsradikalen Schmierereien in Salzwedel und Orten in der Umgebung verantwortlich sein.

Das Gründen und Auflösen von Kameradschaften sei schlicht auch ein Problem der fehlenden Führungsfiguren. Einige zogen fort, andere drifteten in die Rockerszene ab. "Das Problem ist, dass die Gesinnung bei den Rechtsradikalen geblieben ist und es benötigt nur einen Anlass oder eine geeignete Führungsperson, um diese Menschen um sich zu scharen", ist auch Hilmar Steffen vom Verfassungsschutz überzeugt.

Es gibt aber auch zentrale Ereignisse, die rechtsextreme Kameradschaften und Freie Kräfte in Sachsen-Anhalt zusammenführen: Das sind neben den beiden Groß-Konzerten in Nienhagen (Harzkreis) und Berga (Burgenlandkreis) auch der Aufmarsch der Initiative gegen das Vergessen anlässlich der Bombardierung Magdeburgs am 16. Januar. In diesem Jahr kamen dazu rund 900 Neonazis aus ganz Deutschland zusammen.