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Erste Ernüchterung im Aufnahmeheim Barby Spontan abgehauen - in die DDR

Als 16-Jährige ging Monika Seiffert 1962 mit ihrem Freund Peter und dem knapp zwei Monate alten Sohn Michael vom Ruhrgebiet in die DDR. Erste Station war das Aufnahmeheim in Barby. Nach einem bewegten Leben suchte sie diesen Ort vor wenigen Tagen zum ersten Mal wieder auf.

Von Thomas Linßner 20.10.2014, 03:18

Barby l Wenige Meter hinter der Wache wird Monika Faustmann (geb. Seiffert, verwitwete Schmacht) von ihren Emotionen überwältigt. Sie fällt ihrem ältesten Sohn in den Arm, kann ein paar Tränen nicht unterdrücken. Endlich ist sie dort, wo ihre Odyssee im Sommer 1962 begonnen hatte. Heute, nach 52 Jahren, kommt sie nicht nach Barby, weil die kleine Stadt so idyllisch an der Elbe liegt. Die 68-Jährige will ihre Lebensgeschichte aufarbeiten. Barby nimmt darin eine Schlüsselposition ein, obwohl sich Monika gerade mal eine Woche dort aufhielt.

Eltern machen Druck

1961. Monika Seiffert lebt im Gladbeck im nördlichen Ruhrgebiet. Eines Tages verliebt sie sich in einen schmucken jungen Mann, der in der Zeche arbeitet. Peter Schmacht stammt aus dem Osten, aus der Nähe von Zittau. Mit 16 wird sie schwanger. Monikas Familie ist entsetzt. So jung und dann auch noch ein Kind von einem "Ostzonenflüchtling", wie sie ihn abwertend nennen. Die Probleme Zuhause werden immer größer, wo Monika mit ihrem Säugling wohnt. Heiraten darf sie mit 16 noch nicht, eine Wohnung bekommen die beiden nur, wenn sie verheiratet wären. Ständig machen die Eltern der Tochter Vorwürfe, dass sie ihr Leben wegwirft.

Die junge Familie wird immer verzweifelter.

Als Sohn Michael knapp acht Wochen alt ist, fassen Monika und Peter einen spontanen Entschluss. Sie steigen in den Zug und fahren in Richtung Osten. Das geschieht ohne jegliche Vorbereitung, ohne Einreisegenehmigung. Man wird sie schon bis Zittau fahren lassen, denken die beiden in ihrer jugendlichen Naivität.

Doch am Grenzkontrollpunkt Oebisfelde werden die Drei zum ersten Mal mit der rauhen Wirklichkeit konfrontiert. Sie müssen aussteigen, mehrere Stunden zur Personenkontrolle in einem verschlossenen Raum ausharren. Das Baby schreit, weil die vorgekochten Fläschchen alle sind. Monika reißt der Geduldsfaden: "Wenn wir hier schon wie Verbrecher behandelt werden, dann besorgen Sie wenigstens für den Säugling ein bisschen Milch." Die Beamten stellen daraufhin gleich mal klar, wer hier welche Forderungen stellen kann: "Wenn Sie unverschämt werden, schicken wir Sie in den Westen zurück, Ihren Mann behalten wir hier." Denn der gilt ja als Republikflüchtling, weil er vor dem Mauerbau ins Ruhrgebiet ging.

Verhöre und "Quarantäne"

Endlich werden die Drei in einen Bus gesetzt. Ziel ist das zentrale Aufnahmeheim Barby. Dort müssen sich Monika und Peter zahlreicher Verhöre unterziehen, sind getrennt untergebracht. Die Behörden sprechen von "Quarantäne". Von Barby aus verlegt man sie ins Bezirksheim Radebeul. Nach sechs Wochen werden Monika, Peter und Baby Michael endlich in Peters Heimat Dittelsdorf bei Zittau entlassen.

Den Empfang im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat hatten sie sich anders vorgestellt.

Was bleibt ihnen übrig, als sich in der DDR einzurichten. Monika heiratet ihren Peter, bekommt zwei weitere Söhne und arbeitet in einem Zittauer Kaufhaus. Ihr Mann verdient sein Geld im Kraftwerk Hirschfelde.

Doch die ersten "kleinen" Probleme treten auf, weil Michael überwiegend Westklamotten trägt. Regelmäßig kommen Pakete von den Großeltern aus dem Ruhrgebiet, mit denen man sich ausgesöhnt hat. Einmal eskaliert die Situation, als ein Lehrer verlangt, dass der Pubertierende seinen Pulli ausziehen soll. Er nimmt anschließend mit freiem Oberkörper am Unterricht teil ... Um Demütigungen wie diese ihrem Sohn zu ersparen, trennt die Mutter fortan mit der Rasierklinge alle Herstellerschildchen aus der Kleidung.

Als 1976 ihre Schwester im Ruhrgebiet heiratet, stellt Monika einen Besuchsantrag. Doch der wird abgelehnt. So langsam ist das Maß voll. Die fünfköpfige Familie stellt einen Ausreiseantrag. Und läuft in den folgenden zwei Jahren Spießruten.

Die Söhne werden von den Lehrern unter Druck gesetzt, gegen die Eltern aufzubegehren. Weil das nicht geschieht, folgen Repressalien. An Klassenfahrten dürfen sie nicht teilnehmen. Wer nicht in der FDJ ist und dann auch noch zum Klassenfeind will, hätte kein Recht auf sozialistische Errungenschaften. Auch Monika wird in ein anderes Kollektiv versetzt, wo sie isoliert von den Kollegen arbeiten muss.

Michael ist hin und her gerissen. Weil er ein guter Leichtathlet ist, würde ihm die Sportschule in Dresden offen stehen. Er hat einen großen Freundeskreis, verliebt sich ein erstes Mal. Was die Sache nicht einfacher macht. Der 15-Jährige zweifelt: Ist es der richtige Weg, den die Eltern da einschlagen? Was erwartet ihn im Westen?

Am 4. Februar 1978 sind dererlei Gedanken überflüssig. Binnen 24 Stunden muss die Familie Schmacht die DDR verlassen. Mittlerweile hatte sie den 22. Ausreiseantrag gestellt ...

Nur mit dem, was sie tragen können, kommen Monika, Peter, Michael, Frank und Ralf im Ruhrgebiet an. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung berichtet von einer "fünfköpfigen Familie", die von der DDR in den Westen ging.

Innere Unruhe im Westen

Nun ist Monika Schmacht wieder in ihrer alten Heimat. Doch das rechte Heimatgefühl will sich bei ihr nicht einstellen. Ihrem Mann und den drei Jungen hört man zudem an, wo sie herkommen. Das Oberlausitzer Sächsisch ist wie ein Stigma. Um deswegen nicht immerfort verspottet zu werden, gewöhnen es sich zumindest die Söhne schnell ab.

Besonders Michael bemerkt eine innere Unruhe in sich. Er will und will nicht im Westen ankommen. So sehr hat ihn die alte Wahl-Heimat geprägt. Er vermisst den Zusammenhalt in der DDR. Tief in seiner Seele schlummert da so ein undefinierbares Gefühl. Woran auch die erlebten staatlichen Repressalien nichts ändern können.

1989 fällt die Mauer. Vater Peter Schmacht war ein Jahr zuvor gestorben. Wenig später besucht sein ältester Sohn sofort wieder die Stätten seiner Kindheit in der Oberlausitz.

2000 verdichtet sich die innerliche Unruhe zu einem Entschluss: Er geht in den Osten zurück, zwar nicht ins Zittauer Gebirge, aber nach Uthmöden bei Haldensleben. Und ist angekommen.

2012 versuchen Monika und ihr Sohn zum ersten Mal jenen Ort zu finden, an dem die Odyssee ihres Lebens begann. Doch sie fragen in Barby die falschen Leute, die nichts mit einem "Aufnahmeheim" anfangen können. Im Sommer 2014 sieht Monika einen Fernsehbeitrag über das Aufnahmeheim im Schloss und ist wie elektrisiert. Sie ruft die Stadtverwaltung Barby an, wird dort an die Volksstimme verwiesen ...