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Defibrillatoren für den Notfall Herzinfarkt: Schocker, die unter die Haut gehen

Der Defibrillator kann Menschen vor dem plötzlichen Herztod retten. Doch während extern vorsorglich bereitgestellte Geräte kaum zum Einsatz kommen, werden Patienten zunehmend Mini-"Elektroschocker" implantiert - mit Erfolg und mit Nebenwirkungen.

Von Oliver Schlicht 22.10.2014, 03:04

Magdeburg l Juni 2006, auf der B 81 bei Gröningen. Elektriker Hartmut Lienecke, damals 53 Jahre alt, ist mit dem Auto auf dem Weg nach Halberstadt. "Der Schmerz durchzog plötzlich die ganze Brust", erinnert er sich. Atemnot, Angst. Todesangst. Der Halberstädter stoppt das Auto, wankt am Straßenrand entlang und versucht, andere Autos anzuhalten. "Niemand hat gestoppt. Plötzlich so hilflos zu sein, war eine schlimme Erfahrung", sagt er heute.

Der Mann tut etwas, wovon Ärzte dringend abraten: Er setzt sich trotz Schmerzen ans Steuer und fährt nach Halberstadt ins Krankenhaus. Denn: Ihn hätte der plötzliche Herztod von einer Sekunde zur anderen in tiefe Bewusstlosigkeit stürzen können. Etwa 30 Prozent aller Todesfälle bei Herzinfarkten ereignen sich durch Herzrhythmusstörungen in den ersten 20 Minuten vor jeder medizinischen Hilfe.

Doch bei Hartmut Lienecke geht es gut aus - zunächst. Er wird nach der Erstversorgung mit dem Rettungswagen nach Magdeburg gebracht. Drei Wochen später ereilt ihn aber ein zweiter Infarkt zu Hause. "Ich habe auf der Couch gelegen und wie ein Karpfen auf dem Trockenen nach Luft geschnappt." Die Ehefrau hilft. Er überlebt erneut.

Der Mann bekommt sechs Monate später in einer ersten Operation drei Bypässe zur besseren Herzdurchblutung gelegt. Es folgen ein Herzschrittmacher, ein Herzmuskel-Stabilisator, der durch Stromschläge regelmäßig seinen Herzmuskel stimuliert. Und ein "Implantierbarer Cardioverter-Defibrillator" (ICD) - ein batteriebetriebener Elektroschocker, der bei Herzrhythmusstörungen selbstständig Stromstöße aussendet - eine im hohen Maße schmerzhafte Erfahrung.

Dazu kam es bei dem heute 61-Jährigen noch nie. Angst davor hat er nicht. Auch wenn seine vernarbte Brust inzwischen aussieht wie die eines Soldaten nach mehreren Kampfeinsätzen. Lienecke lächelt: "Ich bin für jede einzelne Operation dankbar. Ich lebe ein normales Leben."

Tod durch Herzinfarkt ist mit jährlich etwa 50000 Betroffenen die zweithäufigste Todesursache. Schätzungen von Experten zufolge erleiden bis zu 200000 Menschen jährlich in Deutschland einen Herzinfarkt, kleine Anfälle auch unbemerkt. Drei bis fünf Minuten entscheiden bei Herzkammerflimmern in der Akutphase über Leben und Tod. Herzdruckmassage oder Elektroschocks mit einem Defibrillator - nur das hilft in diesen entscheidenden Minuten.

Weil das so ist, wurden in den vergangenen Jahren automatische "Defis" zu Tausenden in deutschen Einkaufszentren, Sportvereinen, Rathäusern und andernorts angeschafft. Diese "Bewegung" schwappte mit der Jahrtausendwende aus den USA nach Europa. Ziel: Soforthilfe durch Laien, wenn jemand umkippt. Problem: Niemand weiß so recht, wo genau ein öffentlicher "Defi" hängt.

Herzinfarkt auf Platz 2 der Todesursachen

Es gibt zwar Vereine, die im Internet um Auflistungen bemüht sind. "Aber wir sind darauf angewiesen, dass wir die Standorte mitgeteilt bekommen", so Friedrich Nölle, Vorsitzender des in Hamm ansässigen Vereins Definetz e.V. "Und da gibt es große regionale Unterschiede." In der Datenbank dieses Vereins (www.definetz.de) finden sich immerhin 44 Standorte im mittleren und nördlichen Sachsen-Anhalt. Der Stückpreis dieser häufig aus gemeinnützigen Mitteln angeschafften Geräte betrage etwa 2000 Euro pro Jahr, so Nölle. "Enthalten darin sind Kosten für Wartung und Schulung im Umgang mit den Geräten."

Knapp 7000 bundesweit öffentlich zugängliche "Defis" listet der Verein in Hamm auf. Die Frage, wie oft diese "Defis" tatsächlich zum Einsatz kommen, kann dort niemand beantworten. Nachfrage im Magdeburger Einkaufszentrum Allee-Center. Dort hängt ein "Defi" für den Notfall im Schrank am Infoschalter. Center-Managerin Margaret Stange-Gläsener: "Das Gerät wurde vor zehn Jahren angeschafft und einmal durch ein moderneres Gerät ersetzt. Zum Einsatz kam es in dieser Zeit einmal - jedenfalls fast", erzählt die Managerin. Kurz bevor dem Betroffenen die Elektroden auf die Brust gedrückt wurden, stürmte der herbeigerufene Notarzt ins Allee-Center.

Dr. Thomas Rauwolf, Medizintechniker an der Kardiologie-Klinik am Universitätsklinikum Magdeburg, berichtet von einer Untersuchung am Flughafen Frankfurt/Main, die 2010 die Anwendung der "Defis" klären helfen sollte. Dort waren 2002 16 Geräte angeschafft worden. Pro Jahr bewegen sich etwa 50 Millionen Menschen durch den Flughafenbereich. Ergebnis: "Im Jahr 2010 kamen diese Geräte 50 mal tatsächlich zum Einsatz. Es gab 14 Reanimationen. 57 Prozent der Betroffenen haben den Infarkt überlebt."

Das Beispiel zeige, so Rauwolf, dass die Geräte zwar nur sehr selten zum Einsatz kommen, aber auch, dass sie Menschenleben retten. "Der Trend in den vergangenen Jahren geht eindeutig hin zur Ausstattung von Risikopatienten mit kleinen mobilen Defibrillatoren", so der Techniker. Stückpreis: um 10000 Euro. ICD sind batteriebetriebene Geräte, die automatisch Elektroschocks aussenden, wenn sie Unregelmäßigkeiten bei der Herzfunktion registrieren. Etwa alle fünf bis sechs Jahre müssen die ICD oder ihre Batterien aus technischen Gründen gewechselt werden. "Wenn das Gerät anspringt, ist das zwar eine sehr schmerzhafte Erfahrung. Aber es rettet das Leben des Patienten", so Rauwolf. Es gibt noch andere Begleiterscheinungen. Zuweilen lösen die ICD falsch aus. Das sei zwar nicht lebensbedrohlich, so Rauwolf, könne aber zu psychischen Belastungen führen. Auch kann der Gedanke daran, jederzeit von einem Elektroschocker in der Brust niedergestreckt werden zu können, Angstzustände und Depressionen auslösen. Eine bessere psychologische Betreuung der ICD-Patienten wird deshalb zunehmend von Ärzten wie dem Münchner Psychokardiologen Karl Heinz Ladwig gefordert. Denn die Zahl der Operationen, bei denen diese ICD-Geräte vorbeugend unter die Haut von Patienten implantiert werden, wächst stetig. Bis vor zehn Jahren bekamen nur Patienten mit Infarkt-Erfahrung die ICD implantiert. Inzwischen bekommen die Geräte Risikopatienten auch prophylaktisch. "In unserer Klinik wird es in diesem Jahr etwa 200 ICD-Operationen geben", so Rauwolf. Allein in Magdeburg werden ICD an vier Kliniken implantiert.

In Sachsen-Anhalt steigerte sich die Zahl der ICD-Operationen zwar stetig. Sie liegt im Vergleich zu anderen Bundesgebieten vor allem in den nördlichen Landkreisen (siehe Grafik) aber noch deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Schlusslicht ist hierzulande der Landkreis Stendal. Die Herzpatienten dort bekommen besonders selten ICD-"Defis" implantiert.

Egal ob durch automatische Defibrillatoren, Herzdruckmassagen, durch ICD-Implantationen oder einfach durch bessere Aufklärung zur Gesundheitsvorsorge: Laut Statistischem Bundesamt ging die Zahl der Todesfälle durch Herzinfarkte in den vergangenen Jahren um 22 Prozent zurück. Eine gute Nachricht. Denn so wie der Halberstädter Elektriker Hartmut Lienecke seit acht Jahren ein normales Leben führt, ist diese Aussicht jedem vergönnt, der dem Tod von der sprichwörtlichen Schippe gesprungen ist.