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Analphabetismus in Sachsen-Anhalt Lesen lernen für die Töchter

Andreas Schulz* kann erst seit kurzem ganze Wörter schreiben - dabei ist er schon 40. Der Burger gehört zu den rund 200.000 Analphabeten in Sachsen-Anhalt. Helfen lässt er sich in einem neuartigen Kurs der Volkshochschulen im Land. Dabei werden die Schüler auch nach dem Unterricht begleitet.

Von Elisa Sowieja 17.02.2015, 02:23

Burg l Brot, Butter, Zucker, Milch: Als Andreas Schulz diese vier Dinge aufzählt, klingt er ein bisschen stolz. Sie alle kann er heute auf einem Einkaufszettel notieren - noch vor einem halben Jahr war das undenkbar. Denn der 40-Jährige hat nie richtig lesen und schreiben gelernt. "Silben erkennen, das konnte ich, aber keine ganzen Wörter", erzählt er, während sein Blick unsicher durch den Raum wandert. "Schreiben ging überhaupt nicht." Seit Herbst holt der Hilfs-Bauarbeiter nach, so viel es geht. In Burg belegt er einen neuartigen Kurs für Analphabeten, den Volkshochschulen in Sachsen-Anhalt seit knapp einem Jahr anbieten. Er nennt sich "Lesen und schreiben lernen von Anfang an", das Geld kommt von der Europäischen Union.

Im Vergleich zu den Standard-Kursen für Analphabeten, die es an allen Kreisvolkshochschulen im Land gibt, geht hier die Unterstützung über die Schulstunden hinaus. Zusätzlich zum Lehrer im Unterricht gibt es einen Pädagogen, der den Teilnehmern lebensbegleitende Hilfe anbietet. Sprich: Je nach Bedarf holt er zum Beispiel Auskunft bei Behörden ein, hilft beim Kündigen des Versicherungsvertrags oder kommt mit zum Arzt.

"Manche sind so unsicher, dass sie sich nicht mal durchsetzen können, wenn sie einen Arzttermin brauchen." - Ewa Kozlowska-Voigt, Lehrerin

Die meisten hätten das bitter nötig, weil sie durch ihr Manko sehr unselbstständig seien, erklärt Ewa Kozlowska-Voigt. Sie ist begleitende Pä-dagogin in der Gruppe von Andreas Schulz. "Die Menschen im Kurs konnten sich nie selbst um ihre Post kümmern", sagt sie. "Daher verstehen sie oft den Inhalt nicht, vor allem wenn der Absender eine Behörde ist."

Das nage auch am Selbstbewusstsein. "Manche sind so unsicher, dass sie sich nicht mal durchsetzen können, wenn sie einen Arzttermin brauchen." So kommt es auch mal vor, dass Kozlowska-Voigt in einer Praxis anruft.

Um die Briefe von Andreas Schulz kümmerte sich bisher eine Verbündete: seine Freundin. Sie hilft ihm seit fast 20 Jahren, sich durch den Alltag zu mogeln. Auch vorher in der Sonderschule kam er irgendwie durch. Lesen und schreiben zu lernen, das interessierte ihn nicht. "Damals war ich einfach faul", erinnert er sich. "Ich wusste, dass ich auch so einen Job bekomme - zu DDR-Zeiten war das nun mal so." Und die Lehrer? "Die haben mich durchgeschleust", sagt er.

Andreas Schulz ist ein typischer Kursteilnehmer, berichtet Kozlowska-Voigt: In der Regel sind sie zwischen 30 und 50 Jahre alt, gingen früher auf eine Lernbehinderten-Schule und erhielten wenig Unterstützung von zu Hause, haben einen Teilfach- oder Hilfsarbeiter-Abschluss. Im Gegensatz zu Schulz allerdings arbeiten viele in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Einen Teil bilden zudem Ausländer.

Dass es Jahrzehnte dauerte, bis sich der Burger Hilfe geholt hat, ist der Volkshochschullehrerin zufolge wiederum klassisch. Vor allem die viele Arbeit habe ihn in den letzten 20 Jahren abgehalten, erklärt Andreas Schulz: "Ich war bis zu zwölf Stunden am Tag auf dem Bau. Außerdem musste ich dort auch nicht lesen können." Die Hinweisschilder zum Beispiel waren meist die Gleichen - einmal gewusst, was draufsteht, konnte er sich das Aussehen einprägen.

Als er vor einem halben Jahr seinen Job verlor, nutzte er dann doch die Chance, etwas zu ändern. Ein mutiger Schritt, den er in erster Linie gar nicht für sich selbst gegangen ist. Vielmehr dachte er an seine Töchter. Denn auch wenn sich der 40-Jährige vor anderen nicht scheut, zuzugeben, dass er Analphabet ist - die beiden sollen es nicht mitbekommen: "Es macht mich traurig, dass sie mehr wissen als ich", sagt er. "Und falls meiner Freundin mal irgendwas passieren sollte, muss ich mich doch um alles kümmern können."

Bisher, glaubt Schulz, hätten seine Mädels - 15 und 16 Jahre alt - nicht bemerkt, dass er nicht lesen und schreiben kann. "Mit den Schularbeiten sind sie von Anfang an zu meiner Freundin gegangen. Ich war ja immer arbeiten", sagt er. Und wenn er jetzt dreimal pro Woche zur Volkshochschule fährt, sagt er ihnen nur, er gehe zur Schule.

"Damals war ich einfach faul. Ich wusste ja, dass ich später auch so einen Job bekomme." - Andreas Schulz, Analphabet

Auch wenn der Burger im Alltag Unterstützung von seiner Freundin hat, nimmt er die Hilfe von Ewa Kozlowska-Voigt gern in Anspruch. Einmal pro Woche geht er nach dem Kurs zu ihr. Neulich hat er eine Unfallversicherung abgeschlossen, da ist sie mit ihm den Vertrag durchgegangen. Und als er beim Arbeitsamt eine Weiterbildung beantragen wollte, hat sie dort angerufen und sich erklären lassen, wie die Chancen stehen. "Sie ist eine super Hilfe", erzählt Andreas Schulz. "Am liebsten würde ich sie jeden Tag irgendwas fragen."

Damit die Analphabeten in dem neuartigen Kurs schnell lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, sind die Stundeninhalte sehr praktisch angelegt. Sobald die Teilnehmer Silben zu Wörtern zusammenfügen können, üben sie das Lesen und Schreiben an Beispielen aus ihrem Leben. So studieren sie etwa Werbeprospekte oder setzen eine Kündigung für den Handyvertrag auf. Dabei bekommt jeder eine Aufgabe, die auf sein Sprachniveau zugeschnitten ist. Wer ganz am Anfang steht, schreibt nur Begriffe zum Thema Handyvertrag auf, Fortgeschrittene setzen unter die Kündigung noch eine Begründung.

Seit dem Start des EU-Programms im April haben in Sachsen-Anhalt 20 Kurse begonnen, die meisten von ihnen sind bereits abgeschlossen. Zehn der 15 Kreisvolkshochschulen sind bisher dabei, darunter die im Jerichower Land, Harz, in der Börde und in Salzwedel. In Magdeburg hat man ein eigenes Projekt für Analphabeten. In den restlichen Volkshochschulen laufen bisher nur die Standardkurse.

Dort, wo das neue Angebot auf dem Plan stünde, sei es gefragter als die Standard-Kurse, berichtet Uwe Jahns, Geschäftsführer des Volkshochschulverbandes Sachsen-Anhalt. Statt geplanter sechs Teilnehmer gebe es im Schnitt sieben bis acht.

Kurse mit lebensbegleitender Hilfe existieren in ähnlicher Form auch in einigen anderen Ländern, etwa in Bayern und Bremen. Für das Programm in Sachsen-Anhalt hat die EU zunächst eine Million Euro zur Verfügung gestellt. Von dem Geld werden auch Weiterbildungen in Ämtern und Firmen finanziert, bei denen die Mitarbeiter sensibilisiert werden, Analphabeten zu erkennen. Ende Juni läuft die Förderung aus. Bis dahin sollen sechs weitere Kurse abgeschlossen sein.

"Ich weiß, dass ich hier nicht als Einstein rausgehe. Aber ich kann endlich einen Brief lesen." - Andreas Schulz, Analphabet

Danach wird es wohl weitergehen. Jahns zufolge genehmigt die EU voraussichtlich eine Folgeförderung über sieben Jahre. Dann soll das Angebot ausgeweitet werden: Bisher gibt es für jeden einen Block mit 200 Unterrichtsstunden, künftig belegt man eine vom Sprachniveau abhängige Anzahl an Modulen, das können bis zu 900 Stunden werden.

Dass Folgekurse inklusive lebensbegleitender Hilfe sichergestellt sind, hält auch der Bundesverband Alphabetisierung für nötig: "Es ist wichtig, dass das Gelernte gefestigt und unter Begleitung im Lebensumfeld angewendet wird", sagt die Vorsitzende Ellen Abraham.

Andreas Schulz ist schon mitten im Folgekurs. Wenn der in ein paar Wochen ausläuft, muss er zu Hause weiterüben. Denn für ihn ist es Zeit, sich wieder einen Job zu suchen. Vielleicht will er sogar seinen Facharbeiter nachmachen. "Den Computertest würde ich jetzt bestimmt bestehen", sagt er mit einer Portion Optimismus. Doch selbst, wenn er Hilfsarbeiter bleibt, nimmt er einiges mit: "Ich weiß, dass ich hier nicht als Einstein rausgehe. Aber ich kann endlich einen Brief lesen. Und ich habe mehr Selbstbewusstsein."

*Name geändert