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Seltene Krankheiten Wenn Ärzte Detektive sind

Teresa ist erst ein Jahr alt, doch sie muss wohl bald sterben. Dass ihre
Eltern zumindest wissen, was ihr fehlt, verdanken sie dem
Mitteldeutschen Kompetenznetz für Seltene Erkrankungen. Vor einem Jahr
wurde es in Magdeburg gegründet. In Teresas Fall trägt es auch dazu bei,
dass Kindern wie ihr irgendwann geholfen werden könnte.

Von Elisa Sowieja 20.02.2015, 02:21

Magdeburg l Die braunen Augen von Nikolai Petkov sind trüb vor Traurigkeit. Seine kleine Teresa ist schon wieder im Krankenhaus, die ganze Nacht lang hat sie nicht richtig geatmet. Ihre Symptome können die Ärzte behandeln. Gegen ihre Krankheit aber sind sie machtlos. Das Mädchen leidet unter GM1 Gangliosidose, einer seltenen Stoffwechselkrankheit. Dabei führt ein kaputtes Enzym dazu, dass die Nervenzellen das Gehirn nicht richtig antreiben. Die Muskeln sind schlaff, das Atmen fällt schwer, man ist anfällig für Infekte. Nach zwei bis drei Jahren versterben die Kinder in der Regel.

In Sachsen-Anhalt wird statistisch gesehen nur alle zehn Jahre ein Baby geboren, das eine Störung wie Teresa hat. So verwundert es nicht, dass der Hausarzt der Stendaler Familie keine Diagnose parat hatte, als sie mit den ersten Symptomen zu ihm kam: einem Fleck am Rücken und O-Beinen. Über einen Hautarzt landeten die Petkovs im Sommer beim Mitteldeutschen Kompetenznetz für Seltene Erkrankungen - kurz MKSE - in Magdeburg.

Vor einem Jahr haben sich zu dieser Gruppe im Kern Ärzte der Universitätskliniken Magdeburg und Halle zusammengeschlossen. Beteiligt sind auch die Kassenärztliche Vereinigung, überregionale Krankenhäuser sowie Ärzte und Wissenschaftler der Region, die als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.

"Als Außenstehende sehe ich Zusammenhänge zwischen Symptomen eher als der Hausarzt." - Dr. Katja Ziegenhorn, MKSE-Lotsin

So wie alle Fälle beim MKSE landete auch dieser auf dem Tisch von Dr. Katja Ziegenhorn. Das Magdeburger Krankenhaus beschäftigt sie aus eigenem Budget als Netzwerk-Lotsin. Sie analysiert also die Fälle, stellt sie Kollegen vor und vermittelt Spezialisten. An die Suche nach einer Diagnose für Teresa erinnert sie sich noch genau: "Als sie zu uns kam, fielen gleich ihre vergröberten Gesichtszüge auf. Nach Blut- und Urintest hatten wir dann schon den Verdacht, dass es eine Stoffwechselkrankheit sein kann."

Gewissheit gaben weitere Untersuchungen in der Klinik und spezielle Enzym- und Gentests, für die Blutproben nach Hamburg und Tübingen geschickt wurden. Das ganze Prozedere dauerte rund zwei Monate.

Für Nikolai Petkov und seine Frau war die Diagnose ein Schock. "Wir hätten nie gedacht, dass sie etwas hat, das man nicht heilen kann", erzählt er mit matter Stimme. Zwar geht der gebürtige Bulgare weiter als Hilfskoch arbeiten und besucht einen Deutsch-Kurs. "Aber ich kann mich keine Minute konzentrieren."

Seine Frau, sagt er, sitze jeden Tag vor dem Computer - in der Hoffnung, dass das Internet doch noch einen Hoffnungsschimmer ausspuckt. "Oft weint sie stundenlang." Doch die Zwei müssen stark sein. Denn sie haben noch zwei weitere Kinder: den zehnjährigen Krasimir und Cvetelin, den - zum Glück gesunden - Zwillingsbruder von Teresa.

Im Fall des Mädchens aus Stendal hatten Ziegenhorn und ihre Kollegen schnell eine Ahnung, welche Krankheit infrage kam. Denn am Magdeburger Uniklinikum gab es vor einiger Zeit einen Patienten mit derselben Diagnose. Meist aber ist die Ideenfindung aufwendiger. Sie erinnert ein bisschen an die Symptom-Puzzelei des Fernseharztes Dr. House, des eigenwilligen Diagnostikers, und seines Teams - nur mit weniger Dramatik und mehr Taktgefühl.

"Es ist gut, Gewissheit zu haben. Jetzt versuchen wir, die verbleibende Zeit mit ihr zu nutzen." - Nikolai Petkov, Vater von Teresa

Zunächst durchforstet Ziegenhorn sämtliche Krankenakten des Patienten. "Mein Vorteil ist, dass ich als Außenstehende Zusammenhänge zwischen Symptomen eher sehe als der Hausarzt, der den Patienten seit Jahren kennt", erklärt sie. Dann folgt eine Recherche in Diagnose-Foren im Internet. Bleibt beides ohne Erkenntnis, stellt sie den Fall Kollegen vor. Zur kleinen Runde alle zwei bis drei Wochen kommen um die zehn Ärzte der Magdeburger Uniklinik zusammen. Bei der großen Konferenz einmal im Monat beraten sich rund 20 Mediziner aus Magdeburg und Halle per Videoschaltung.

Die Ärzte kommen aus unterschiedlichen Disziplinen. Doch sowohl die Lotsin als auch der Leiter des MKSE, Professor Klaus Mohnike, sind Kinderärzte. Denn die meisten seltenen Erkrankungen haben genetische Gründe und können sich somit theoretisch schon in der Kindheit bemerkbar machen.

In der Praxis sind allerdings rund 90 Prozent der Patienten erwachsen. Das liegt unter anderem daran, dass Symptome oft erst später erkannt werden oder sich dann verschlimmern. Rund 300 Fälle hat das MKSE bisher analysiert. Die Patienten stammen aus ganz Mitteldeutschland, teilweise auch aus weiteren Bundesländern. Da die Arbeit oft der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleicht, kann nur knapp jeder zehnte Fall aufgeklärt werden.

Und von den Patienten, für die eine Diagnose gefunden wird, handelt es sich bei den wenigsten tatsächlich um eine seltene Erkrankung. "Manchmal haben die Symptome zum Beispiel psychische Gründe", berichtet Ziegenhorn. Es sei auch schon vorgekommen, dass eine Frau, die seit drei Monaten Fieber hatte, paradoxerweise nur ihr Medikament gegen Fieber weglassen musste.

Wenn dann aber mal eine Exotenkrankheit entlarvt wird, ist der Patient mehr als dankbar. So auch ein Mann, den jahrzehntelang ein Jucken hinter dem Ohr plagte. Die Ärzte stellten fest, dass er eine sogenannte Mastozytose hatte, bei der sich bestimmte Zellen in der Haut anhäufen. Mit Medikamenten konnte das Jucken endlich gelindert werden.

Bei einer anderen Patientin war die Diagnose lebenswichtig für ihren Sohn. Die Mutter kam damals mit Leberzirrhose zum MKSE. Wie sich herausstellte, lag die Ursache in einer seltenen Eisenspeichererkrankung - eine erbliche Störung. Nach der Diagnose testeten die Ärzte auch den Sohn der Frau positiv. "Bei ihm kann man nun die Krankheit mit einer Therapie aufhalten", erzählt Ziegenhorn.

Auch wenn man die kleine Teresa nicht retten kann: Ihren Eltern hilft es, dass sie zumindest wissen, woran ihre Tochter sterben muss. "Es ist gut, Gewissheit zu haben. Jetzt versuchen wir, die verbleibende Zeit mit ihr zu genießen", sagt Nikolai Petkov. Er holt tief Luft, dann fügt er hinzu: "Manchmal tun wir einfach so, als gäbe es die Krankheit nicht." Zu weit in die Zukunft planen, das vermeidet die Familie. Aber einmal würde sie gern noch mit Teresa nach Griechenland fliegen, damit die Eltern des Bulgaren die Kleine ein letztes Mal im Arm halten können.

Es hat noch einen weiteren Sinn, dass Teresas Krankheit vom MKSE erkannt wurde: In Kanada wird die GM1 Gangliosidose derzeit erforscht, hat Ziegenhorn in Erfahrung gebracht. Deshalb hat sie eine Blutprobe des Mädchens nach Toronto geschickt. So kann Teresas Fall dazu beitragen, dass Kinder wie sie vielleicht eines Tages ihre Einschulung erleben dürfen.