Ahnenforschung Wer bin ich?

Eines Tages beschloss der Brite Ian Mercer, der Geschichte seiner Familie auf den Grund zu gehen. Was er entdeckte, war eine tragische Liebesgeschichte zwischen England und Magdeburg. Heute sagt er: "Ahnenforschung hat mein Leben verändert."

Von Lion Grote 10.03.2015, 13:41

Magdeburg l Agnes Wilkins war das, was man gemeinhin unter einer "englischen Lady" versteht. Blass, kühl, geheimnisvoll. Tatsächlich blieb die große blonde Frau selbst für ihre eigene Familie ein Geheimnis - bis zu ihrem Tod 1988. Dabei war immer klar: irgendetwas stimmt nicht mit der Geschichte, die sie ihren Kindern und Enkeln erzählte. "Einmal, als ich so um die zwölf war, fragte ich sie nach meinem Großvater", erinnert sich Ian Mercer, der Enkel von Agnes Wilkins.

"Eigentlich hatte ich immer Angst vor dieser Frau, doch für einen Moment wurde sie ganz sanft und erzählte mir von einem Mann namens Erich Jacobs aus Magdeburg." In knappen Worten berichtete sie, dass sie und Erich sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg in London kennenlernten, verliebten und bald darauf zwei Kinder bekamen. Erich sei dann 1918 an der Spanischen Grippe gestorben, die in ganz Europa Millionen Opfer forderte.

Doch Ian Mercer ist ein neugieriger Mann. Und er weiß, wie man forscht. Immerhin ist er studierter Geologe. Mit seiner Pensionierung 2008 beschloss er, sich nicht mehr nur Steine anzusehen, sondern seine Familie und damit auch sich selbst. Weltweit ist er damit einer unter Millionen Ahnenforschern.

"In den USA gilt Familienforschung als das beliebteste Hobby nach Rasenmähen", sagt Daniel Riecke. Er ist einer der wenigen Berufsgenealogen, also professioneller Ahnenforscher, in Deutschland und betreibt seiner Generalagentur für Genealogie in Magdeburg. Auch in Sachsen-Anhalt beschäftigen sich immer mehr Menschen mit der eigenen Geschichte. "Das Thema boomt", sagt Riecke.

Manchmal gewiss steckt hinter dem Interesse der Wunsch, bei der Suche auf einen berühmten Namen zu stoßen, wie Goethe, Luther oder von Guericke. Doch Daniel Riecke weiß: "Nicht immer war der Gutsherr der Vater, manchmal eben auch der Stalljunge." Doch für viele andere geht es bei der Ahnenforschung auch um die Suche nach der eigenen Identität - wie bei Ian Mercer. Durch die Geburtsurkunde seiner Mutter wusste er, dass Erich Jacobs 1892 in Magdeburg geboren wurde. Von ihr wusste er auch, dass sein Großvater mit Beginn des Ersten Weltkrieges in englische Gefangenschaft geriet.

Mit Hilfe englischer Archive kam Ian Mercer der Wahrheit näher. Erich Jacobs wurde am 4. August 1914 auf dem deutschen Dampfer "Kronprinzessin Cecilie" festgesetzt. Es war der erste Tag des Krieges in England. Selbst die Volksstimme berichtete damals unter der Überschrift "Noch ein Magdeburger in englischer Gefangenschaft" von der Aktion. Erich Jacobs wurde in das Gefangenenlager Knockaloe auf der Isle of Man in der irischen See gebracht.

Als Dolmetscher verlebte der Magdeburger dort offenbar eine angenehme Zeit. Angenehmer in jedem Fall als viele seiner Altersgenossen auf den Schlachtfeldern. Im Februar 1919 schließlich wurde er gesund und als freier Mann entlassen. "Das war eine Entdeckung!", erinnert sich Ian Mercer. Sein Großvater war also nicht wie gedacht an der Spanischen Grippe gestorben, sondern erfreute sich offenbar bester Gesundheit und ging zunächst zurück nach Magdeburg.

2011 schließlich kontaktierte Ian Mercer Maren Ballerstedt, die Leiterin des Magdeburger Stadtarchivs. Sie kennt solche Situationen. "Wir bekommen in den letzten Jahren immer mehr Anfragen aus dem Ausland. Viele aus den USA aber auch Australier und Brasilianer suchen nach Vorfahren in Sachsen-Anhalt." Und mit der nötigen Geduld auch oft erfolgreich. Erich Jacobs, so stellte sich bald heraus, war der Sohn von Gustav Jacobs.

Dieser eröffnete am 1. April 1901 das vornehme "Königin-Louisen-Bad" in der heutigen Erzbergerstraße gegenüber der Magdeburger Oper. Eine wohlhabende und stadtbekannte Familie. "Wenn man den Beruf der Vorfahren kennt, eröffnet sich gleich ein ganz neues Suchfeld", beschriebt Maren Ballerstedt. Baupläne, Geschäftsakten, ja sogar eine Entnazifizierungsakte konnte Ian Mercer auf diesen Weg ausfindig machen. Langsam wurde die mysteriöse Person, die sein Großvater war, immer realer.

Erich Jacobs arbeitete zunächst im Familienbetrieb, bevor er vermutlich um 1911 nach London ging, um dort im größten Hotel der Stadt, dem "Cecil Hotel", zu arbeiten. "Dort lernte er dann auch meine Großmutter kennen und lieben", erzählt Ian Mercer. Eine offensichtlich leidenschaftliche Liebe, denn der junge Magdeburger und die Britin bekamen innerhalb von eineinhalb Jahren zwei gemeinsame Kinder.

Auf der Rückfahrt von einer Geschäftsreise nach Amerika folgte schließlich die Inhaftierung von Erich. Ian Mercers Großmutter Agnes zog mit den beiden Kindern in die englische Provinz und begann ihr Leben von neuem - und mit einer Lüge. "Möglicherweise hatte sie Angst, als Frau, die sich mit einem Deutschen eingelassen hatte, beschimpft zu werden", sagt Ian Mercer. Ihm geht es wie fast allen Ahnenforschern: "Es endet nie mit einem Punkt, sondern immer mit vielen Fragezeichen." Warum zum Beispiel kamen Erich und Agnes nach dem Krieg nicht wieder zueinander? Ian Mercer kann nur spekulieren: "Erich ging wieder nach Magdeburg. Und möglicherweise hatte ihn die Familie gedrängt, nun ein stabiles Leben zu führen."

Fest steht jedenfalls, dass Erich Jacobs schon 1920 heiratet und wenig später das "Königin-Louisen-Bad" übernimmt. Doch dann findet Ian Mercer Erstaunliches. Einen Brief aus dem Jahre 1938, gesendet aus dem "Königin-Louisen-Bad" an Agnes Wilkins. Darin geht es um den geplanten Besuch des Sohnes in Magdeburg. Doch Ian Mercer weiß bis heute nicht, ob dieser Besuch jemals stattfand.

Doch offensichtlich gab es Kontakt zwischen seinen Großeltern. Ian Mercers Mutter jedenfalls hat ihren Vater nie kennengelernt. "Ich mache all diese Forschungen auch für sie. Auch wenn es unglaublich traurig ist, dass sie die Geschichte nie erfahren hat." Sie starb 1998. Erich Jacobs, soviel weiß Ian Mercer heute, lebte zwischenzeitlich auch in Berlin und Hamburg, wo er 1973 starb. "Er war all die Zeit so nah und doch so fern", bedauert Ian Mercer. Sein Großvater hatte keine weiteren Kinder.

Und doch bekam diese traurige Geschichte noch eine positive Wendung. Mit Hilfe der Ahnenforscherin Corinna Meiß aus Goslar fand er einen lebenden Verwandten in Deutschland: den Enkelsohn von Erichs Schwester Käthe. "Als wir das erste Mal miteinander telefoniert haben, war das ein unglaubliches Gefühl. Das war wie ein Wunder!", sagt Ian Mercer. Plötzlich wurden die Akten und Daten ganz menschlich.

Beide trafen sich kurz darauf in England und bald wird Ian Mercer zum ersten Mal nach Magdeburg kommen. Er sagt: "Ahnenforschung hat mein Leben verändert!"

Sie wissen etwas über Erich Jacobs oder wollen Kontakt zu Ian Mercer? Dann schreiben Sie an: lion.grote@volksstimme.de