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Auf Spurensuche in Thale Harz: Der Wildtierkümmerer vor Gericht

Für die einen ist er ein Betrüger, für andere ein Wildtierretter. Am Mittwoch wurde Jens Rennecke aus Thale der Prozess gemacht. Vorwurf: Er soll sich 11.000 Euro betrügerisch erschlichen haben.

Von Oliver Schlicht 19.03.2015, 02:27

Thale l Blitzlichtgewitter, Fernsehkameras sind auf ihn gerichtet. Jens Rennecke, selbst ernannter Wildtierbetreuer, erträgt den großen Rummel im kleinen Quedlinburger Amtsgericht mit Gelassenheit. Den Umgang mit Medien ist er gewöhnt. Die BILD-Zeitung hat seinem Leben mit Eule "Argus" eine ganze Serie ("Der Kauz und sein Vogel") gewidmet. Auch Rundfunksender und das Fernsehen hatten in den vergangenen vier Jahren stets gern über den Harzer Eigenbrötler berichtet.

Doch im Amtsgericht geht es heute in einem Strafprozess um Betrug. 11.000 Euro hatte der 46-Jährige von einem privaten Tierfreund erhalten. Das Geld war für den Aufbau einer Auffangstation für Wildtiere gedacht. Doch diese Station wurde nie gebaut. Rennecke behauptet, das Geld in bar zurückgegeben zu haben - ohne Zeugen, ohne Quittung. In einem Zivilverfahren am Landgericht Magdeburg im vergangenen Sommer wurde ihm das nicht abgenommen. Rennecke soll 10.500 Euro zurückzahlen. Das tat er bis heute nicht.

Im Strafverfahren geht es nun um die Frage: Wollte er überhaupt diese Station errichten? Oder hat er sich mit betrügerischer Absicht einfach das Geld erschlichen? Sein Anwalt, Gernot Frohwein, glaubt an seine Unschuld: "Betrogen hat er niemand."

Psychiatrisches Gutachten erstellt

Wer ist dieser "Kauz", dessen Schuldfähigkeit das Gericht vor einem Jahr zunächst mit einem psychiatrischen Gutachten prüfen ließ? Voll schuldfähig ist er, so das Gutachten. Was nicht heißt, dass Jens Rennecke ganz normal ist.

Auf Spurensuche zwei Tage vor dem Prozess. Eine kleine Wohnung in Thale. Das Zuhause der Renneckes. Die dreiköpfige Familie lebt von Hartz IV. "Jens kommt gleich", sagt seine Frau Liane. Sie schaut Fernsehen im Wohnzimmer. Kuchen steht auf dem Tisch. Auf der Couch schnarcht ein kleines Wildschwein. Eingehüllt in Kissen auf einer grauen Decke. Die schwarze Hauskatze hält sich abseits vom Schwein. Der Keiler hat gerade sein Fläschchen bekommen. Willi, so sein Name, ist das jüngste Familien-Findelkind aus der Wildnis. Spaziergänger hatten ihn im Wald gefunden und bei Renneckes abgegeben. Nun wird er aufgepäppelt.

Die Wohnungstür geht auf. Andreas Rennecke hat seinen achtjährigen Sohn Julius von der Schule abgeholt. Beide tragen Tarnjacken. Der Vater hat kaum noch Zähne im Mund. "Glauben Sie denn, ich hätte immer noch keine Zähne, wenn ich die 11.000 Euro für mich behalten hätte?", wird er später fragen. Nach einer kurzen Willi-Begrüßung zieht der Wildtierfreund eine Tüte mit toten Mäusen hervor.

Aus der Zoohandlung. "Zwölf Mäuse für 14.40 Euro. Alle zwei Tage muss ich für den Bussard eine Tüte kaufen", erzählt er. Bussard? Rennecke öffnet die Tür zum Zimmer neben der Küche. Ein gelber Vogel flattert aufgeregt umher. Hinten im Raum sitzt ein ausgewachsener Bussard auf dem Schrank. Kein Käfig. Unter ihm eine graue Decke als Kotfang. Das Tier ist am Kopf verletzt. Auch der Greifvogel wurde ihm gebracht. Nun bekommt "Bussi" eine Maus zu fressen.

Zurück im Flur. Hundeleine, Halsband. Das Schwein wird gleich ausgeführt. Muss das Schwein immer raus zum Pinkeln? "Nein. Das macht es zu jeder vollen Stunde in der Küche. Auch nachts. Ich stelle einen Nachttopf unter", so Rennecke. Bevor das Schwein kackt, krümmt es den Rücken. Dann schiebt Rennecke dem Frischling jedes mal ein Küchentuch unter den Hintern.

Vater, Sohn und der Frischling steigen draußen in den alten Mitsubishi "Colt". Das Auto habe ihm ein Bekannter für 200 Euro verkauft, erzählt er. Zehn Minuten später tobt das kleine Wildschwein an der Leine mit Julius über eine Waldlichtung. Das Kind hat seinen Spaß. Das Schwein sowieso.

Zeit für ein Gespräch. Er steckt sich eine selbst gestopfte Zigarette an. Aufgewachsen ist Jens Rennecke in Königerode, Harz. Zootechniker hat er gelernt und in der Genossenschaft gearbeitet. "Mein weiteres Leben war eigentlich von der LPG vorbestimmt." Doch dann kam die Wende. Er wurde Versicherungsmakler. Mit Arbeitsplatz im Hauptgebäude, wie er betont. "Dann haben mich Luxemburger abgeworben." Bis zu 17.000 Euro will er im Monat verdient haben. "Trotzdem habe ich mir keinen Ferrari gekauft wie andere." 1996 dann der Einschnitt. "Bei einem Autounfall mit Toten bin ich fast ums Leben gekommen."

Er stieg aus dem Versicherungsgeschäft aus, arbeitete kurz als Bautechniker in Duisburg. "Und dann wollte ich nur noch weg. Zurück zur Natur." Zurück zu den Wurzeln, zu den Tieren. Er beginnt, sich im heimischen Harz um aufgefundene Wildtiere zu kümmern. Geld braucht er fast nichts. Rennecke geht keiner festen Beschäftigung mehr nach. Aus dem normalen Leben zieht er sich weitgehend zurück. Er schreibt Bücher über "Das Menschenleben". Bücher, die niemand liest. Und ein Drehbuch mit dem Titel "Der Mensch - Dein Freund" wird nie verfilmt. 2007 kommt sein Sohn Julius auf die Welt. Die Familie zieht nach Thale in eine Stadtwohnung.

Mit Sturzhelm vom Baum gestürzt

Irgendwann nach 2011 gerät Rennecke zunehmend auf die schiefe Bahn der verrückten Medienwelt. Er stürzt sich bereitwillig vor der Kamera mit Sturzhelm von einem Baum, um einer Eule das Fliegen beizubringen. Eule "Argus" macht Schlagzeilen.

Der "Kauz" ist geboren. Eine Mischung aus Waldschrat, Wildhüter und Witzfigur. Rennecke spielt das Spiel mit. Er wird prominent. Ein Verlag bringt ein Buch von ihm heraus. Titel: "Der Vogel-Flüsterer". Der Mann, der weiß, wie man mit Eulen spricht. Es wird nicht wirklich ein Verkaufsschlager. Bis heute glaubt Jens Rennecke, sich mit Eulen verständigen zu können. "Ich habe einer Eule im Wald eine Freundin vermittelt", erzählt er ernst.

Prominenz bringt Geld. Rennecke wird ein bisschen weniger arm. Und kann damit nicht umgehen. 11.000 Euro. "Das Geld habe ich wenige Wochen nach Erhalt zurückgegeben. Die wollten gar nicht spenden. Die wollten nur meine Eule kaufen", sagt er. Einer Schuld ist er sich nicht bewusst.

Die Wildtierauffangstation, die er mal in Aussicht gestellt hatte, wurde nie gebaut. An vier Plätzen in Thale bringt er heute seine Wildtiere unter, sagt er. Aktuell hat er zwölf wilde Gäste. Manche Tiere sollen später an Tierparks gehen, andere will er auswildern.

Mit dem alten "Colt" geht es zu einem seiner Gehege. Ein Haus mit Garten oberhalb der Stadt. Im Haus wohnt ein Alkoholiker, der im Garten Müll sammelt: Kühlschränke, Möbelteile, Bretter, Stangen. Der Besucher kommt kaum durch zum Gehege, soviel Müll liegt überall. Rennecke darf hier kostenlos zwei Waschbären in einem zusammengezimmerten Käfig unterbringen. Die beiden Tiere sitzen im Unterstand und kommen heraus, als sie Renneckes Stimme hören. "Herrchen" verteilt Futter.

Die Anlage soll noch wachsen. "Ich baue hier für Willi ein eigenes Gehege." Rennecke zeigt auf den Platz neben dem Waschbär-Käfig. Dort liegen bereits ausrangierte Gitterelemente und ausgegrabene Betonpfeiler. Der typische Baustoff, mit dem Rennecke seine Tiergehege errichtet. Altes Zeug, für neues Baumaterial fehlt ihm das Geld.

Zwei Waschbären warten im Unterstand

Julius muss bald nach Hause. Die Sonne versinkt herrlich rot über den Harzer Hügeln. Wieder geht ein arbeitsreicher Tag für den arbeitslosen Wildtierkümmerer von Thale zu Ende. Der "Colt" mit "Willi" und Julius an Bord rollt langsam den Berg hinab.

Oben am Hexentanzplatz gibt es schon seit 25 Jahren die Möglichkeit, aufgefundene Wildtiere beim dortigen Tierpark in Obhut zu geben. "Bis zu 150 Fundtiere werden jährlich bei uns abgegeben", erzählt Tierparkleiter Uwe Köhler. Thale brauchte nie wirklich eine Wildtierauffangstation. "Die Stadt hat eine."

Er kennt Jens Rennecke. Er schmunzelt. Doch den Stab will er nicht über ihn brechen. "Der Bussard ist eine geschützte Vogelart. Da ist eine Auswilderung möglich. Für die Waschbären und das Wildschwein könnten sich tatsächlich Plätze in Tiergärten finden", glaubt Uwe Köhler.

Quedlinburg, Amtsgericht. Das Verfahren ist vorbei, noch bevor es begonnen hat. Vertagt, weil Jens Rennecke ein Ablehnungsgesuch gegen Richterin Antje Schlüter eingereicht hat. Davon wusste selbst sein Anwalt nichts. Begründung des Gesuches: Die Richterin habe ihr Urteil schon gefällt. Das gehe aus den Gerichtsunterlagen hervor. "Da hat er was missverstanden", so Anwalt Frohwein. Den Antrag will sein Mandant trotzdem nicht zurückziehen. Richterin Schlüter wirft Rennecke "staatsgefährdende Rechtsbeugung" vor.

Die Kameras klicken. Wieder eine "Kauz"-Geschichte. Jens Rennecke macht sich auf den Heimweg.