1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Anna Braunschweig: "Aus der Not eine Tugend gemacht"

Bombenkrieg in Magdeburg Anna Braunschweig: "Aus der Not eine Tugend gemacht"

Mit einer Zerstörungsquote von 60 Prozent war Magdeburg eine der vom Zweiten Weltkrieg am schwersten betroffenen deutschen Städte. Die 90-jährige Anna Braunschweig erinnert sich.

Von Steffen Honig 08.05.2015, 03:25

Magdeburg l "Ich bin waschechte Neustädterin", sagt Anna Braunschweig und lächelt. In ihrem Kiez im Magdeburger Norden hat die rüstige 90-Jährige auch über die Kriegszeit erlebt und überlebt, gemeinsam mit den Eltern und ihren beiden Schwestern. Die Schrecken jener Jahre haben sich der früheren Büroangestellten tief ins Gedächtnis eingegraben.

Wie jener 5. August 1944, als die elterliche Wohnung ausgebombt wurde. Die 20-jährige Anna fand Aufnahme bei den künftigen Schwiegereltern, die Eltern zogen in ihre Gartenlaube. Einen weiteren Angriff im September überlebte die junge Frau nur knapp - sie wurde im Keller verschüttet.

Dazu kam die Sorge um ihren Freund: er diente bei der U-Boot-Flotte. "13 Feindfahrten hatte er - und kam Gott sei Dank heil nach Hause!" Zusammengebracht hatte sie ihr kleiner Musikverein. Die jungen Leute konnten so das geltende Tanzverbot umgehen: "Wir haben in einer Tischlerei die Hobelbänke beiseitegestellt und getanzt!"

"Breiter Weg war von Leichen übersät"

Schließlich der Gipfel des Grauens: Der 16. Januar 1945, als Magdeburg zum zweiten Mal in seiner Geschichte fast ausgelöscht wurde. Anna Braunschweig überstand die Bombenhölle und machte sich mit ihrer Schwester zu Fuß auf den Weg zur Arbeitsstelle, der Firma Polte in Stadtfeld: "Uns flogen die Balken um die Ohren, der Breite Weg war von verkohlten Leichen übersät, furchtbar", erinnert sich die Seniorin.

Das Werk war kaputt, die Arbeitsstelle weg - das Ende nahte. Fortan fehlten ihr die Lebensmittelmarken. Der familiäre Zusammenhalt sicherte das Überleben. "Zu Anfang des Krieges habe ich noch Hitler geglaubt", bekennt Anna Braunschweig. Bekannte ihrer Eltern hätten ihr jedoch beschieden: "Du bist zu naseweis!" Sie sollten recht behalten. Über die Frontlage hätte die Familie stets Bescheid gewusst. Der Schwiegervater hörte verbotenerweise den englischen Soldatensender ab.

Der Einmarsch der Amerikaner in Magdeburg hat für Anna Braunschweig ein Gesicht: das eines dunkelhäutigen Soldaten. Der habe gefragt: "Where you sleep...?" Ihr Schwiegervater konnte Schlimmeres verhindern. "Man hat uns nichts zuleide getan." Gleiches gelte für die spätere russische Besatzungsmacht: "Negatives kann ich nicht sagen."

Die agile Zeitzeugin hebt den Zusammenhalt der Magdeburger in den schweren Jahren hervor. "Die Leute hatten ein gutes und nachbarschaftliches Verhältnis. Das Bestreben war, dass man materiell über die Runden kommt. Wir haben aus der Not eine Tugend gemacht." Dazu trug ein Schwager des Vaters bei: Er hatte eine Schafherde in Gübs östlich der Elbe.

"Habe Hammelfleisch eigentlich nie gemocht"

Nachdem es wieder einen Flussübergang gab - die Nazis hatten sämtliche Brücken gesprengt - konnte diese Nahrungsquelle angezapft werden. "Dabei habe ich Hammelfleisch eigentlich nie gemocht", lacht Frau Braunschweig.

Im November 1946 heiratete Anna ihren Fritz, der inzwischen verstorben ist. Zwei Jahre später wurde ihre Tochter geboren. Frau Braunschweig, stolze Großmutter und Urgroßmutter, liest gern Bücher von Helmut Schmidt. Auf dem Laufenden hält sie sich durchs Fernsehen - und die Volksstimme: "Ich lese heute noch das Schwarze aus der Zeitung!"