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Edzard Reuter "Es fehlt der Mut"

Der ehemalige Daimler-Chef im Volksstimme-Interview über das vereinte Deutschland und die Versäumnisse der Politik.

15.05.2015, 01:21

Edzard Reuter war einer der mächtigsten Männer Deutschlands. Bis heute ist er kritischer Begleiter der Politik. Volksstimme-Redakteur Lion Grote sprach mit ihm.

Volksstimme: Herr Reuter, wenn Ihnen an Ihrem 60. Geburtstag 1988 jemand gesagt hätte, dass in wenigen Monaten die Mauer fällt - hätten Sie das geglaubt?
Edzard Reuter: Nein, mit Sicherheit nicht. Ich kenne auch niemanden, der das von sich behauptet. Das war nicht vorhersehbar. Dass das System am implodieren war, war schon klar. Aber an einen genauen Zeitpunkt hat bis zur Nacht des 9. November 1989 niemand gedacht.

Ihr Vater war Regierender Bürgermeister in Berlin, als die Teilung begonnen hat. Wie war es da für Sie, zum ersten Mal durch das wiedervereinte Berlin zu gehen?
Das war wie im Traum, natürlich auch für besonders prägnante Teile der Stadt wie den Potsdamer Platz und das Brandenburger Tor. Kurz nach dem Mauerfall kam mein Freund Shepard Stone aus den USA, der auch jahrelang hier in Berlin gearbeitet hatte. Mit dem war ich am Brandenburger Tor. Ein US-Fernsehsender hatte dort einen Kran, der zog eine Tonne hoch und aus dieser Tonne konnte man auf den Pariser Platz und die Linden schauen. Anschließend sind wir durch das Tor hindurchgegangen. Shepard Stone hat Rotz und Wasser geheult. Mir ging es nicht anders.

Haben Sie die Euphorie dieser Zeit geteilt oder waren Sie auch skeptisch gegenüber dem, was möglicherweise kommen könnte?
Ich war schon irgendwie euphorisch. Hinterher kann man das kritisieren, aber das war so. Am Anfang habe ich überhaupt nicht mitempfinden können, wie viele Menschen in der DDR zwar das Regime weghaben wollten, aber trotzdem stolz waren auf das, was sie sich selbst in der DDR schwer genug erkämpft und erarbeitet hatten. Das habe ich nicht verstanden, bevor ich solche Menschen näher kennenlernen konnte. Für mich bedeutete der Fall der Mauer den Vollzug einer historischen Notwendigkeit, nämlich den Sieg der Freiheit, und deshalb war ich euphorisch.

Woran hat aber der Wirtschaftsmann Edzard Reuter direkt nach der Wende gedacht? An Käufer, Absatz und Gewinne?
Ja, gar kein Zweifel. Es ging aber nicht in erster Linie um das angebliche oder tatsächliche Marktpotenzial, sondern die Frage, was man sinnvollerweise und wirtschaftlich vertretbar machen kann, damit die neuen Bundesländer so schnell wie möglich auf die Beine kommen. Ich war zum Beispiel auch bei Sket in Magdeburg, um zu schauen, ob es Möglichkeiten der Zusammenarbeit gibt. Es ging also nicht primär um eine kleingeistige Markterschließung und schnelle Profite, sondern die Frage danach, wie man das Gebiet weiterentwickeln kann, damit daraus - auch klar - eines Tages ein lohnender Markt wird.

Viele große DDR-Betriebe - auch Sket - mussten aber nach der Wende massenhaft Arbeiter entlassen oder gingen gänzlich Pleite. War das, weil sie unter marktwirtschaftlichen Aspekten nicht lebensfähig waren oder wurde die DDR von der kapitalistischen Erfahrung des Westens vielleicht überrascht?
Ich glaube beides. Die Begriffe Markt, Kunden, Service und Kostentransparenz waren in der DDR ja völlig fremd. Man hatte feste Kunden, die innerhalb des Comecon festgeschrieben waren. Das Denken vom Markt her gab es also, mit wenigen Ausnahmen, überhaupt nicht. Und dann begann ganz schnell ein brutaler Wettbewerb. Manche westliche Firmen sind in die entstehenden Lücken rücksichtslos reingestoßen und haben alle anderen mit ihren Ellenbogen beiseite gedrängt. Ich weiß noch, wie ich Anfang der 1990er bei Sket auf einer Betriebsversammlung gesprochen und versucht habe zu erzählen, wie Marktwirtschaft funktioniert. Da saßen die meisten mit offenen Mündern da und haben Bahnhof verstanden. Als wenn da vor ihnen so ein Märchenonkel steht. Deshalb darf man auch nicht vergessen, was das für eine Leistung war, das alles in relativ kurzer Zeit dennoch zu lernen.

Ist das so oder sehen Sie da immer noch Nachholbedarf?
Mit Sicherheit nicht. In aller Regel ist der Osten absolut konkurrenzfähig.

Dennoch gibt es innerhalb der Ostländer große Unterschiede. Sind das Nachwirkungen der Wende?
Zum größten Teil sind das immer noch die Folgen gewachsener Strukturen aus der DDR-Zeit. Sachsen-Anhalt hatte traditionell noch nie vergleichbare industrielle Startbedingungen wie Sachsen. Sonst gibt es keinen ernsthaften Grund, warum die Wirtschaft Sachsen-Anhalts bis heute noch nicht zu vergleichbarer Blüte gelangt ist.

In vielen Statistiken wird immer noch zwischen Ost und West verglichen. Halten Sie diese Vergleiche überhaupt noch für zeitgemäß?
Wir haben in unserem Grundgesetz die Zielsetzung der einheitlichen Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Das klingt wunderbar, ist aber noch nie wirklich erreicht worden. Ich denke auch, dass eine solche Utopie in einem europäischen Land wie Deutschland nicht mehr an die Wand gemalt werden muss. Aus der Sicht mancher älterer Menschen mögen solche Unterschiede noch eine Rolle spielen, aber für die junge Generation ist das kein Kriterium mehr. Natürlich sind Gefühl und Realität nie deckungsgleich. Selbst wenn das Gefühl in einzelnen Regionen manchmal sogar mit einer gewissen Berechtigung sagt, "uns geht´s doch viel schlechter", kann das kein Grund sein, vom Staat grundlegende Maßnahmen einzufordern. Wir sind ein einheitliches Deutschland, und es bleibt Aufgabe der Wirtschaft, im Zusammenspiel mit den Gewerkschaften für wettbewerbsfähige Strukturen zu sorgen.

Sie haben 1994 den Satz geschrieben "Deutschland braucht eine neue, qualifizierte politische Elite". Sind Sie heute zufriedener?
Ja. Aber mit Einschränkungen. Die richten sich in die Zukunft. Manchmal habe ich den Eindruck, wir leben in Deutschland im Augenblick in einer Art Traumwelt. Selbst wenn es hie und da Probleme gibt, scheint weit verbreitet das Gefühl vorzuherrschen, uns ginge es doch recht gut und wir müssten nur aufpassen, dass uns niemand etwas wegnimmt. Das wird sehr stark personifiziert durch die Bundeskanzlerin. Die Menschen denken, die passt schon auf uns auf. Ich habe großen Respekt vor der immensen Leistung, die diese Frau und auch der Finanzminister physisch und psychisch vollbringen. Was aber völlig fehlt, ist, dass den Deutschen die Wahrheit gesagt wird. Wenn es uns nicht gelingt, Europa zusammenzuführen zu einer handlungsfähigen Einheit, dann kann das Ganze auseinanderbrechen und auch wir stehen völlig nackt da. Deswegen müssen wir bereit sein, Opfer zu bringen. Das sagt uns niemand offen und ehrlich, niemand hat offensichtlich die Traute dazu.

Trotzdem äußert sich ja in Parteien wie der AfD oder Bewegungen wie Pegida das Gefühl "uns geht es nicht gut". Wie passt das zusammen?
Ich glaube, das betrifft vor allem Menschen der Generation 55+. Das schließt allerdings nicht aus, dass es auch viele Jüngere gibt, die davon überzeugt sind, wir müssten "unsere Zukunft selbst gestalten und uns nichts von oben herab sagen lassen" - und sich deswegen gegen demokratisch vollauf legitimierte Entscheidungen wehren.

Ist es denn ein Zufall, dass eine Bewegung wie Pegida ausgerechnet in Dresden erstarken konnte?
Ich weiß, dass es Leute gibt, die sagen "Dresden war schon immer so, da hat es immer schon solche Leute gegeben". Die nehme ich aber nicht ernst. Es gibt ja überall solche Erscheinungsformen. Sei es durch den Front National in Frankreich oder UKIP in Großbritannien. Das ist nichts Spezifisches für Dresden oder Ostdeutschland.

Halten Sie solche Bewegungen für bedrohlich?
Das macht mir sehr große Sorgen. Nicht zuletzt hat es etwas zu tun mit der Handlungsweise der großen Parteien, zu taktieren und sich durchzulavieren, anstatt offen zu sagen, was sie eigentlich wollen. Auf so einem Nährboden wächst immer Unzufriedenheit. Es reicht nicht, dem nur mit Schimpfworten zu begegnen. Man muss den Ärger aufgreifen und den Menschen zuhören, jedenfalls dann, wenn sie nicht einfach nur irgendwelchen Wirrköpfen hinterherlaufen. Die demokratischen Parteien müssen dringend den Mut wiederentdecken, für klare Positionen einzustehen und bereit zu sein, dafür auch mal eine Wahl zu verlieren. Wirkliche Führungsfähigkeit darf in einer Demokratie nicht bedeuten, immer nur auf die nächste Wahl zu schielen.

Wäre Edzard Reuter ein guter Politiker geworden?
Das weiß ich nicht. Natürlich bin ich hie und da danach gefragt worden. Aber ich habe ein anderes Leben verbracht, indem mir in der Wirtschaft Verantwortung übertragen wurde.

Ein großer Teil aktueller Bewegungen beschäftigen sich mit dem Fremden. Sie haben selbst einen Teil ihrer Jugend im Ausland verbracht und eine Stiftung für Integration. Wie nehmen Sie die aktuelle Stimmung wahr?
Es gibt eine ungeheure positive Entwicklung, was das Thema Integration in Deutschland angeht. Gleichzeitig gibt es besorgniserregende Zusammenhänge. Wir können ja nicht die Augen davor verschließen, dass es in vielen Ballungsräumen junge Menschen mit Migrationshintergrund gibt, die schlecht deutsch sprechen, keine Schule besucht haben und keine Ausbildung oder Arbeit bekommen. Die lungern herum und werden dann teilweise kriminell. Das wäre im Grunde kein Thema für eine große Diskussion, wenn nicht von außen die ganze Thematik nur allein mit einer falsch verstandenen Auslegung des Islam in Verbindung gebracht würde.

Was wir tagtäglich aus dem Irak oder Syrien sehen und was dort angeblich im Namen des Islam geschieht, sind Dinge, die die normalen Menschen sofort in Zusammenhang mit den hier sichtbaren Erscheinungsformen von nicht gelungener Integration bringen. Deswegen gibt es Einstellungen, die verstärkt werden durch die Flüchtlinge, die kommen. Tröglitz ist dafür ein Beispiel, aber es zeigt sich im Grunde jeden Tag dort, wo ein Flüchtlingsheim eingerichtet wird. Dagegen aber stehen die vielen Menschen, die sich reinknien und den Flüchtlingen helfen.

Da ist eine Urangst, die vor dem Fremden immer besteht. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten und dafür gibt es keine Patentlösung. Der Schlüssel dafür ist: Bildung, Bildung, Bildung. Aber das ist eine Riesenaufgabe, vor der wir stehen.

Aber noch Helmut Kohl hat sich in den 1990er Jahren geweigert zu sagen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Sind das heute Auswirkungen eines politischen Versagens von damals?
Das kann man wohl sagen. Es war ein großes, historisches Versäumnis der CDU, dass sie jahrelang versucht haben, so zu tun, als sei Deutschland kein Einwanderungsland. Sie haben immer so getan, als könne und werde man die Einwanderer irgendwann wieder abschieben. Dadurch haben wir mindestens zehn Jahre verloren.

Ist Deutschland heute eine vereinte Gesellschaft?
Zumindest gibt es keinerlei Anlass, sich Sorgen zu machen über die mangelnde innerdeutsche Einheit. Wenn Sie wie ich als Norddeutscher nach Südwestdeutschland gekommen sind, haben Sie auch erstmal gedacht, das sind alles Schwaben. Aber wenn Sie da leben, wissen Sie, dass viele Schwaben und viele Badener sich bis heute gegenseitig nicht ausstehen können. Diese unterschiedlichen Mentalitäten gibt es in Deutschland und die wird es auch weiterhin geben. Aber ein generelles Problem gibt es nicht. Im Innersten wissen wir: Wir sind Europäer.

Welche Rolle in Ihrem politischen und gesellschaftlichen Engagement spielt Ihr Vater noch?
Er spielt natürlich eine Rolle. Aber die Frage "was hätte wohl Ihr Vater dazu gesagt", habe ich immer als bescheuert empfunden. Heute ist heute, und er hat damals gelebt. Er hatte natürlich Grundüberzeugungen, die ich unverändert teile. Und er war eben ein Mann, der den Mut hatte, klare Worte zu sagen.

Ihr Vater war Oberbürgermeister von Magdeburg. Haben Sie noch eine Verbindung zu der Stadt?
Ja, natürlich. Das ist schon von der Familientradition her ganz selbstverständlich. Und auch gleich nach der Wende war Magdeburg einer der Orte, wo ich mich zuerst umgeschaut und versucht habe, zu helfen. Einen Teil meiner Kindheit habe ich ja dort verbracht - wenn auch nicht lange. Ich weiß, das sagen nicht alle Magdeburger von ihrer Stadt: Aber ich finde Magdeburg so, wie es jetzt geworden ist, eine lebendige, angenehme, selbstbewusste Stadt.