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Johanna Wanka Ein Mähdrescher rettete ihr Abi

Die Bundesbildungsministerin im Volksstimme-Interview über die Stasi, Freundschaften und ihre enge Bindung an Sachsen-Anhalt

23.06.2015, 01:17

Wuchtig erhebt sich das Bundesforschungsministerium am Berliner Spreeufer. Vom Balkon ihres Büros blickt Hausherrin Johanna Wanka auf das Kanzleramt und den Reichstag. Es war kein gerader Weg, der sie hierhergeführt hat, wie sie im Gespräch mit Volksstimme-Redakteur Hagen Eichler bekennt.

Frau Wanka, Sie sind Deutschlands oberste Wissenschaftspolitikerin. Dabei wären Sie als junge Frau beinahe mal von der Hochschule geflogen. Was ist da passiert?
Johanna Wanka: Das war 1986 in Merseburg. Mein Mann und ich waren beide Oberassistenten an der Technischen Hochschule und haben Disziplinarverfahren bekommen.

Sie waren beide regimekritisch. Was haben Sie angestellt?
Damals gab es nach jeder Sommerpause die sogenannte Rote Woche, die die Studenten wieder auf die richtige politische Spur bringen sollte. Mein Mann und ich wurden überraschend ausgewählt und sollten so ein Seminar durchführen. Wir haben uns den ganzen August vorbereitet, also mit Glasnost beschäftigt und die Sputnik-Hefte gelesen. Und dann gab es auch eine richtig gute Diskussion mit den Studenten: über die Stationierung von SS-20-Raketen, gegen den Wehrkundeunterricht. Später haben wir in unseren Stasi-Unterlagen gesehen, dass deshalb sogar Telegramme in die Stasi-Zentrale nach Berlin geschickt wurden. Wegen uns kleinen Mitarbeitern! Wir durften dann mit einem strengen Verweis an der Hochschule bleiben, waren aber angezählt.

Im Herbst 1989 haben Sie in Merseburg das Neue Forum mitgegründet. War das Ihre erste politische Handlung?
Wir haben immer versucht, die Grenzen auszuloten und haben uns damit Ärger eingehandelt. Deshalb hatten wir so große Hoffnungen vor der Kommunalwahl im Mai 1989. Am Ende war die aber auch wieder gefälscht.

Sie haben gegen die vorgegebene Einheitsliste gestimmt?
Wir sind bei Wahlen immer in das Vorwahlbüro gegangen und haben dort die Kandidaten durchgestrichen. Am Wahltag war man ja schon auffällig, wenn man in die Wahlkabine gegangen ist. Das Ergebnis vom Mai 89 hat uns ernüchtert. Dann gingen im Sommer die ersten Studenten weg aus der DDR. Bei uns zu Hause im Wohnzimmer haben sich 20, 25 Freunde und Bekannte getroffen und dieser Freundeskreis hat das Neue Forum Merseburg initiiert.

Ihre politische Karriere begann 1990 im Kreistag Merseburg. Haben Sie dort das nötige Handwerkszeug gelernt?
Das war schon aufregend, was wir da gemacht haben! Die konstituierende Sitzung des Kreistages hat so lange gedauert, dass mein Mann nachts um eins angefangen hat, mich zu suchen. Wir haben uns mit den Formalitäten sehr schwergetan. Mit einer Geschäftsordnung umzugehen - das habe ich erst im Kreistag gelernt. Wichtiger waren aber die Inhalte, unser Versuch, etwas zu gestalten.

Sind Ihnen Dinge schiefgegangen?
Schiefgegangen würde ich nicht sagen, aber ich habe schon schwierige Situationen erlebt, beispielsweise bei der Auflösung der Stasi. Mit einer Juristin vom Neuen Forum waren wir in der Kreisdienststelle Buna. Der Chef hat uns die dicken Aktenordner gezeigt, das ganze Denunziantentum. Dann kamen Männer mit LKW, die alle Waffen eingesammelt und den Inhalt der gut sortierten Ordner wild durch-einander in Säcke geworfen haben. Das war eine gezielte Verbreitung von Chaos auf Basis des Modrow-Beschlusses, was eine systematische Aufarbeitung erschwerte.

Sie konnten das nicht verhindern?
Wir haben protestiert und versucht, den Prozess anzuhalten, aber das war natürlich schwierig. In der Nähe unserer Wohnung war eine Papiermühle, da kamen nachts die Autos aus Berlin und haben Massen von Papier gebracht. Mein Mann und ich sind im Dunkeln mit dem Fahrrad hingefahren und haben Uhrzeiten und Autonummern notiert. In dieser Zeit haben sich die Stasi-Leute neu organisiert und ihre Biografien angepasst.

Können Sie sich an Ihre Gefühle während dieser Umbruchzeit erinnern?
Angst hatte ich gar nicht. Euphorie war da. Die Freude, etwas gestalten zu können. Es war eine Zeit mit wenig Schlaf.

Warum haben Sie sich nach der Wende keiner Partei angeschlossen?
Ich hatte nach der DDR-Erfahrung zunächst Berührungsängste gegenüber Parteien. Endlich hatte ich die Freiheit, etwas zu sagen - und dann sollte ich mich binden und mich vielleicht einer anderen Meinung beugen? Das kam für mich überhaupt nicht infrage.

Sie haben 26 Jahre in Merseburg gelebt. Was aus dieser Zeit begleitet Sie bis heute?
Sehr vieles: Plakate, Bücher, Erinnerungen. Das Allerwichtigste sind meine Freunde. Nicht alle davon leben noch in Merseburg, aber die wichtigsten Freunde kommen aus meiner Zeit dort. So enge Freundschaften schließt man später nicht mehr so leicht.

Haben Sie für diese Freundschaften heute noch Zeit?
So weit es geht. Mit meiner engsten Freundin telefoniere ich mindestens jedes Wochenende einmal ausführlich.

Sie waren Ministerin in Potsdam, in Hannover, jetzt in Berlin. Warum nie in Sachsen-Anhalt?
Das Angebot hatte ich schon. 1994 hätte ich Ministerin für Wissenschaft und Frauen werden können.

In der rot-grünen Regierung unter Höppner?
Das Angebot kam von den Grünen, von Heidrun Heidecke. Aber eine Regierung unter Tolerierung der PDS war für mich indiskutabel. Zum anderen war ich noch dabei, als Rektorin Erfahrungen im bundesdeutschen System zu sammeln.

1998 hatten Sie keine Scheu mehr vor dem Ministeramt. Da waren Sie die Hochschulexpertin im Schattenkabinett des CDU-Spitzenkandidaten Christoph Bergner.
Als Christoph Bergner auf mich zukam und mir die Umfragen zeigte, sah es so aus, als könnte das Magdeburger Modell, die Tolerierung durch die PDS, weitergehen. Das wollte ich nicht und habe ihm zugesagt.

Weil Sie da wussten, dass Sie ohnehin nicht Ministerin werden?
Nein, weil ich wusste, dass es jetzt auf jeden ankommt, um diese Tolerierung zu beenden. Leider haben wir die Wahl dann doch verloren.

Stattdessen wurden Sie im Jahr 2000 Ministerin in einer SPD-geführten Regierung, unter Manfred Stolpe in Brandenburg. Ein Jahr später sind Sie in die CDU eingetreten. Warum?
Meine Entscheidung fiel nach der Spendenaffäre. Die CDU hatte an Stimmen verloren. Das fand ich ungerecht, gerade, weil wir Helmut Kohl als Kanzler der deutschen Einheit so viel zu verdanken hatten. Da habe ich im Herbst 1999 Christoph Bergner angerufen und ihm angekündigt, dass ich in die CDU Sachsen-Anhalt eintrete.

Aus Trotz? Aus Mitleid?
Aus meinem Gerechtigkeitsempfinden heraus und auch vom Werteempfinden. Dann habe ich aber das Angebot bekommen, Ministerin in Potsdam zu werden, auch als Parteilose.

2001 sind Sie in die Brandenburger CDU eingetreten. Ihre Sorge vor Vereinnahmung war da ausgeräumt?
Ich habe gelernt, dass man in einer Volkspartei wie der CDU sehr vielfältige Meinungen vertreten kann. Die Angst, dass ich von meiner neu erworbenen Freiheit zu viel abgeben muss, hat sich nicht bewahrheitet.

Genau wie die Bundeskanzlerin sind Sie in der Politik eine Quereinsteigerin aus der Wissenschaft. Wird es Politiker mit ähnlichem Hintergrund auch in zehn Jahren noch geben?
Nein, es werden weniger. Heute kommen in den Landtagen und im Bundestag bestimmte Berufsgruppen seltener vor, was schade ist. Die Quereinsteiger haben die Parteien verändert, bereichert.

Als Christian Wulff Sie nach Niedersachsen geholt hat, waren Sie die erste ostdeutsche Politikerin in einem westdeutschen Kabinett. Wie haben Sie in Hannover Ihre Biografie erklärt?
Direkt vor meinem Amtsantritt in Hannover war mir schon etwas flau. Ich war unsicher, ob ich mit einer gänzlich anderen Sozialisation dort klarkomme. Es war aber dann überhaupt kein Problem. Es gab ein großes Interesse, ich bin oft nach meiner Geschichte gefragt worden.

Zu der gehört, dass Sie nur durch den Eintritt in die FDJ das Abitur machen konnten.
Ich war nicht Jung-Pionier, nicht Thälmann-Pionier und auch nicht in der FDJ. Deshalb bin ich nicht zur Erweiterten Oberschule zugelassen worden, obwohl meine Noten stimmten. Meine Mutter hat bis hoch zum Staatsrat Beschwerdebriefe geschrieben, ohne Erfolg. Mein Vater hat dann - ich komme vom Dorf - mit dem Mähdrescher von der LPG für den Vorsitzenden vom Rat des Kreises das Feld gemäht. Geld wollte er dafür nicht, er hat aber gefordert, dass seine Tochter die Oberschule besuchen darf. Das wurde ihm zugesichert, wenn ich in die FDJ eintrete.

Ihr Vater hat das entschieden?
Er hat es mich selbst entscheiden lassen. Am ersten Tag an der Erweiterten Oberschule wurde beim Fahnenappell eine einzige Person in die FDJ aufgenommen, und das war ich. Alle anderen waren schon drin. So geschämt habe ich mich selten.

Als Wissenschaftsministerin haben Sie durch die Grundgesetzänderung mehr Kompetenzen bekommen. Was kann der Bund leisten, was die Länder nicht können?
Der Hochschulpakt etwa war eine Riesenchance für den Osten. Ohne den wäre in Magdeburg oder Leipzig heute vieles geschlossen, von Merseburg gar nicht zu reden. Seit der Grundgesetzänderung 2006 darf der Bund im Hochschulbereich so viele Kooperationen fördern wie noch nie. Und mit der erneuten Änderung im letzten Jahr können wir nun auch unbefristet finanzieren und auch Institutionen unterstützen.

Die Uni Halle hofft auf Geld für die kleinen Orchideenfächer. Kommt da etwas?
Warten wir mal ab.

Gibt´s was für Magdeburg?
Dazu kann ich jetzt nichts sagen. Aber wir haben einiges vor.

Sie sind Ministerin nicht nur für Forschung, sondern auch für Bildung. Müssten Sie nicht deutschlandweit einheitliche Standards für das Abitur durchsetzen?
Die Kultusminister haben Bildungsstandards vereinbart, auch fürs Abitur. Jetzt müssen die auch durchgesetzt werden. Als Erstes gibt es im Jahr 2017 einen gemeinsamen Aufgabenpool, aus dem sich die Länder bedienen können. Das ist genau der richtige Weg und ich hoffe, dass möglichst viele Länder mitmachen. Schüler, Eltern und Lehrer wünschen sich zurecht mehr Vergleichbarkeit.