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Hans-Jochen Tschiche ist tot Widerborstig, ein Leben lang

Mit Hans-Jochen Tschiche verliert Sachsen-Anhalt einen Helden der friedlichen Revolution von 1989. Als Grünen-Politiker ließ der gelernte Pfarrer eine Minderheitsregierung durch die PDS tolerieren - bis heute ein umstrittener Tabubruch.

Von Hagen Eichler 26.06.2015, 03:11

Magdeburg/Haldensleben l Am Ende erkundete er sogar noch die Niederungen der Kommunalpolitik: Vor gut einem Jahr errang Hans-Jochen Tschiche für die Grünen einen Sitz im Börde-Kreistag. Und führte seither eine Mini-Fraktion, der außer ihm genau zwei Menschen angehörten.

Tschiche war eine der entscheidenden Personen des Revolutionsherbstes von 1989. Der Pfarrer ist damals Leiter der Evangelischen Akademie Magdeburg. Am liebsten, erzählte er später der Volksstimme, hätte er schon im Sommer eine Oppositionsgruppe gegründet, ließ sich aber zurückhalten. Am 9. September, als sich 30 Oppositionelle im Haus von Katja Havemann versammeln, ist er dabei. Das Neue Forum wird aus der Taufe gehoben. Tschiche spürt, dass der SED die Macht entgleitet.

Erst vorsichtig, dann immer selbstbewusster, formieren sich im Land die Demonstrationszüge. Tschiche, die Augen hinter dickem Brillenglas, bärtig und mit wirrem Haar, ist immer mittendrin. Er will einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, eine Reform der DDR. Abschaffen will er sie nicht - und dennoch passiert genau das. "Ich habe irrtümlich geglaubt, die Bevölkerung denkt wie wir. Sie war aber abends vor dem Fernseher mental längst im Westen", gesteht er später seinen Irrtum ein. Als die Bürgerrechtler unter dem Namen Bündnis 90 für die Volkskammer kandidieren, werden sie mit 2,9 Prozent der Stimmen abgestraft.

Im Landtag von Sachsen-Anhalt findet Tschiche als Fraktionschef der Grünen eine neue Bühne. 1994 bekommt er bundesweite Aufmerksamkeit, als die Grünen mit der SPD eine Minderheitsregierung bilden, toleriert ausgerechnet von der SED-Nachfolgepartei PDS. Seine Rolle in dieser Konstellation sei heute oft unterbewertet, sagt Sachsen-Anhalts Grünen-Chefin Cornelia Lüddemann. "Er war das Scharnier zwischen Bullerjahn und Gallert, er hat das Ganze moderiert."

Dass viele Grüne, darunter ehemalige Bürgerrechtler, die PDS-Tolerierung ablehnen, kann ihn nicht umstimmen. "So war er immer: Wenn er etwas für richtig erkannt hat, hat er gekämpft", sagt Lüddemann.

1998 fliegen die Grünen aus dem Landtag. Der Sympathiebonus für Bürgerrechler war endgültig aufgebraucht, analysiert Tschiche - und das Milieu, das die Grünen im Westen trägt, ist in Sachsen-Anhalt rar. "Den Ostdeutschen fehlt die westeuropäische Aufklärung", bedauert Tschiche damals im Volksstimme-Interview, "hier weht immer noch so ein Hauch von 50er Jahre durch die Gesellschaft."

Er gibt dennoch nicht auf. Sein Profil ist dezidiert links. Der Ehrenvorsitzende des Grünen-Landesverbandes kämpft für die pazifistische Strömung seiner Partei, fordert den Abzug deutscher Soldaten aus Afghanistan. Seiner eigenen Kirche wirft er vor, öffentliche Ämter mit eigenen Leuten zu besetzen, um Einfluss auf den Staat zu gewinnen. Die Kirche sei "Teil des Herrschaftsgebäudes", kritisiert er und fordert das Ende aller Staatszahlungen.

Zuletzt lebt Tschiche mit seiner Lebensgefährtin im Pfarrhaus von Satuelle bei Haldensleben, wo er Bücher und Kurzgeschichten schreibt. Zum 85. Geburtstag organisiert Giselher Quast, der Magdeburger Domprediger und einstige Wende-Mitstreiter, noch eine Feier im Magdeburger Dom. "Er war ein ungeheuer mutiger Mann zu DDR-Zeiten, er hat dem Staat Paroli geboten", erinnert sich Quast. "In der Wendezeit wurde er zum Volkstribun, der in messerscharfen Sätzen geredet hat."

Zu Beginn dieses Jahres werfen eine schwere Erkältung und eine Lungenentzündung den Polit-Pensionär um. "Vor 14 Tagen ist er in die Reha gegangen. Wir dachten, er ist auf dem Weg der Besserung", sagt Grünen-Chefin Lüddemann am Donnerstag.

Doch Tschiche erholt sich nicht. Am Donnerstagmorgen um 4.30 Uhr ist er in einer Magdeburger Klinik gestorben.