1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Aus der Not geboren

Sachsen-Anhalt Aus der Not geboren

25 Jahre nach der Einheit haben sich die Menschen an das Land Sachsen-Anhalt gewöhnt. 1990 sah das noch anders aus - große Gebiete setzten sich schnell noch in Nachbarländer ab. Einigen wurde es verwehrt.

Von Hagen Eichler 03.07.2015, 03:03

Magdeburg l Sachsen-Anhalt? Ja, da klingelte etwas. In seiner Kindheit, erinnert sich Gerd Gies, da hatte es das mal gegeben. Aber welche Gebiete dazu gehörten...? Wie sah das Landeswappen aus, gab es eine Flagge, eine Hymne gar? Rätselhaft.

So geht es vielen im Herbst 1989. Ein Jahr später ist Gies, ein Tierarzt aus der Altmark, Ministerpräsident dieses unbekannten Landes. In den ersten Wochen und Monaten reist er gezielt durch die Randregionen: nach Salzwedel, nach Nebra, nach Jessen. "Wir wollten den Menschen dort klarmachen, dass sie dazugehören", erinnert sich Gies heute.

Im Herbst ist seit der Wiedergründung Sachsen-Anhalts ein Vierteljahrhundert vergangen. Die wenigsten hätten dem Land anfangs solche Beständigkeit zugetraut. "Zwei, drei Jahre" könnten die fünf Ost-Länder in dieser Form wohl überleben, urteilt der Magdeburger Liberale Manfred Preiß im Juni 1990 - er hatte als Regionalminister der Regierung de Maizière die Neugründungen auf den Weg gebracht.

Das Land zwischen Arendsee und Zeitz entsteht nicht, weil die Menschen es so wollen. Sachsen-Anhalt bleibt einfach übrig. Die Sachsen schwenken schon im Revolutionsherbst 1989 ihre weiß-grüne Fahne. Brandenburg holt den roten Adler vom Dachboden, auch die Thüringer, die Mecklenburger und Pommern entdecken ihren Landesstolz. "Es gab schlagartig eine Identifikation mit den früheren Ländern", erinnert sich Volker Schemmel, einst Volkskammer-Abgeordneter. Einzige Ausnahme: Sachsen-Anhalt. "Die ganz große Zuneigung zu diesem Land gab es damals nicht", formuliert es der Sozialdemokrat.

1990 ist er als Vorsitzender des Verfassungsausschusses hektisch dabei, praktikable Ländergrenzen zu schneiden. Wie Minister Preiß ist Schemmel davon überzeugt, dass die Rückkehr zu den ehemaligen fünf Ländern von allen Varianten die einzig durchsetzbare ist. Die Länder sollen allerdings nicht genau in ihren früheren Grenzen wiedererstehen, sondern durch die Fusion der der DDR-Bezirke. Sachsen-Anhalt = Magdeburg + Halle, so sieht die Rechnung aus.

"Wir wussten immer, dass wir Braunschweiger sind und keine Preußen." - Birgit Kayser, Blankenburg

Dadurch wird das Land zum großen Verlierer der Länderneugründung. Mit einem Federstrich verliert es im Osten weite Gebiete - jene Territorien, die die DDR 1952 den Bezirken Potsdam, Cottbus und Leipzig zugeschlagen hatte.

Den Einwohnern dieser Landstriche ist es nur recht. Das zeigen die Volksbefragungen, die die Regierung de Maizière überall dort abhält, wo Landes- und Bezirksgrenzen auseinanderfallen. In sieben Kreisen dürfen die Menschen abstimmen, ob sie Sachsen-Anhalter werden wollen. In sechs Fällen sagen sie: Nein danke. Die Torgauer sind am entschiedensten: 93 Prozent stimmen für den Anschluss an Sachsen. Und so verliert Sachsen-Anhalt das symbolträchtige Elbufer, an dem sich 1945 Russen und Amerikaner die Hand gereicht hatten. Weg sind die Mineralquellen von Bad Liebenwerda. Halle wird sogar von seinem Flughafen getrennt, weil der im Kreis Delitzsch liegt. Der Kreis Artern, von dem Teile bis 1952 zu Sachsen-Anhalt gehört hatten, verabschiedet sich nach Thüringen. Lediglich der Kreis Jessen entscheidet sich für die Rückkehr zum alten Land.

Sachsen-Anhalt war 1990 unattraktiv, weil es kaum jemand kannte, urteilt der Magdeburger Historiker Mathias Tullner. "Andere Länder wie Sachsen und Brandenburg hatten eine echte Landestradition, Thüringen zumindest eine eingebildete." Sachsen-Anhalt hingegen war erst 1945 aus der preußischen Provinz Sachsen, aus Anhalt und Randgebieten Braunschweigs gebildet worden. 1947 wurde die Provinz zum Land erhoben, 1952 schon wieder aufgelöst.

Am 22. Juli 1990 präsentiert der Sozialdemokrat Schemmel in der Volkskammer das Ländereinführungsgesetz. Erst in der Nacht hatte er die letzten Kreistagsentscheidungen erhalten. "Wir erleben eine historische Stunde", sagt er nun vor den Abgeordneten, mit den Ländern entstehe die Grundlage für ein Staatswesen, "in dem die Bürger ihre Angelegenheiten in freier Selbstverwaltung regeln".

Allerdings: Zuviel Mitbestimmung ist auch nicht erwünscht. Schlicht ignoriert wird der Wille der einst braunschweigischen Landesteile. 1945 hatten britische und sowjetische Besatzer im Harz den Landkreis Blankenburg zwischen sich aufgeteilt, um die Grenzen abzurunden. Der kleinere Westteil kam zu Niedersachsen und bestand als Landkreis Blankenburg noch bis 1972. Der Ostteil wurde 1950 auf die Kreise Wernigerode und Quedlinburg aufgeteilt.

Doch die braunschweigische Identität ist auch vierzig Jahre später noch nicht ausgerottet. "Wir wussten immer, dass wir Braunschweiger sind und keine Preußen", sagt die Blankenburgerin Birgit Kayser (CDU), damals Mitglied der Volkskammer. Und so wächst 1990 die Hoffnung, die Zwangszuordnung zum Osten rückgängig zu machen - und zugleich den Kreisstadt-Status zurückzuholen.

80 Prozent der Einwohner des Ländchens beteiligen sich im Sommer 1990 an einer Volksbefragung, die von der DDR-Regierung nicht vorgesehen ist. Das Ergebnis ist eindeutig: 94,6 Prozent wollen Niedersachsen werden. Vergebens: In der Volkskammer dringt die Blankenburger Abgeordnete Kayser nicht durch.

Ihr Mann Bodo, erster freigewählter Bürgermeister Blankenburgs, versucht es auf anderem Weg und ruft Niedersachsens Ministerpräsidenten Gerhard Schröder (SPD) an, den späteren Bundeskanzler. Blankenburg ist mittlerweile dem Niedersächsischen Städte- und Gemeindebund beigetreten. Doch Kayser wird abgewimmelt. Er hört noch, wie Schröder zu seiner Sekretärin sagt: "Was will der Habenichts?" - so berichtet es Kayser bis heute.

Möglicherweise denkt Schröder auch an seinen eigenen Posten. Juristen sind überzeugt, dass eine Vergrößerung Niedersachsens um mehrere Zehntausend Einwohner Neuwahlen erfordert hätten. Das kann Schröder, der gerade mit knapper Mehrheit der CDU die Macht abgenommen hat, nicht gebrauchen.

Hanns-Michael Noll (CDU), der heutige Bürgermeister Blankenburgs, hat oft durchgespielt, wie es anders gekommen wäre. Er glaubt: Mit einem Anschluss an Niedersachsen hätten die Welfen das Schloss zurückerhalten, das größte und älteste im Braunschweiger Land. Auch die Domäne und ein Dutzend Häuser in der Innenstadt wären wohl an das Fürstengeschlecht gefallen. "Stattdessen gab es jahrelangen Streit um diese Immobilien", sagt Noll, "das hat die Entwicklung der Stadt blockiert."

"Damals standen wir unter einem wahnsinnigen Zeitdruck." - Volker Schemmel, Ex-Abgeordneter

Nicht nur in Teilen des Harzes blickt man 1990 hoffnungsvoll nach Westen. Auch in der früher braunschweigischen Exklave Calvörde, bis 1945 Teil des Landkreises Helmstedt, möchten viele lieber niedersächsisch werden. Dort hatte die Blaskapelle selbst in der DDR zum Abschluss der Mai-Demonstration den Marsch "Wir lustigen Braunschweiger" angestimmt.

Doch die Hoffnungen werden enttäuscht. Für Staatsverträge, wie sie im Fall von Blankenburg und Calvörde nötig gewesen wären, ist die Zeit bis zur Wiedervereinigung zu knapp. "Damals standen wir unter einem wahnsinnigen Zeitdruck", sagt der einstige Volkskammer-Abgeordnete Schemmel heute. Das Parlament produziert Gesetze wie am Fließband.

"Nicht jeder Bürger wird mit der heute erfolgten Grenzziehung übereinstimmen", räumt Schemmel deshalb 1990 ein, als er das Ländereinführungsgesetz vorstellt. Aus der gesamten untergehenden DDR sind Tausende Forderungen und Wünsche eingegangen. Heftig umstritten ist etwa der Kreis Bad Liebenwerda: Bei der Volksbefragung hatten 53 Prozent der Einwohner für den Anschluss an Sachsen votiert, 25 Prozent für Brandenburg und 21 Prozent für Sachsen-Anhalt. Die Befragung ist jedoch nicht bindend. Der Kreistag setzt sich über den Bürgerwillen hinweg und entscheidet sich für Brandenburg. Umstritten ist auch der Status von Havelberg. Jahrhundertelang hatte die Stadt zu Brandenburg gehört, viele wären gern zurückgekehrt. Ein Antrag im Stadtrat scheitert jedoch knapp.

"Die Gründung war pragmatisch. Das musste gemacht werden." - Gerd Gies, Ministerpräsident a. D.

So entsteht in der Nacht zum 3. Oktober ein Land, das an seiner Nordostecke ein kleines bisschen größer ist als 1947 - das im Osten aber weite Landstriche verliert. Ein Land mit zunächst wenig Landesstolz und etlichen Einwohnern, die gar keine sein wollen. Was vielen erst später deutlich wird: Mit der Wiedergründung endet eine einmalige Chance, größere und stärkere Länder zu bilden. Seither sind die Grenzen wie festbetoniert. 1993 wechselt zwar noch das Amt Neuhaus, ein früher hannoversches Territorium, von Mecklenburg-Vorpommern nach Niedersachsen. Möglich ist das, weil es nur um wenige Dörfer geht.

Sind hingegen mehr als 50000 Menschen betroffen, legt das Grundgesetzes hohe Hürden auf. Der SPD-Landtagsabgeordnete Bernward Rothe ist einer der wenigen, den das nicht schreckt. Aus Sachsen-Anhalt will er mit Thüringen und Sachsen ein vereintes Mitteldeutschland schmieden. Die Chancen sind gering: Seit dem Zusammenschluss von drei Südwest-Ländern zu Baden-Württemberg vor 63 Jahren ist kein Bundesland mehr von der Landkarte verschwunden. Politiker, Behörden, Verbände tauschen ungern vertrautes Terrain für etwas Neues ein.

Und auch bei den Einwohnern ist 25 Jahre nach der Wiedergründung die Akzeptanz deutlich gewachsen. Im vergangenen Jahr fühlten sich laut Sachsen-Anhalt-Monitor 71 Prozent der Einwohner dem Land stark oder sehr stark verbunden.

Letzte Frage an den ersten Nachwende-Ministerpräsidenten: War sie richtig, die Entscheidung zur Wiedergründung des Landes? Gies grübelt kurz. "Sie war pragmatisch. Das musste gemacht werden."