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Sozialminister zu Mehrgenerationenhäusern "Wieso ist das Pflegeheim oft der letzte Ausweg?"

Sozialminister Norbert Bischoff will gemeinsam mit Freunden alt werden und baut nun in Halle ein Mehrgenerationenhaus auf.

11.07.2015, 01:01

Sachsen-Anhalts Sozialminister Norbert Bischoff (SPD) zieht von Magdeburg nach Halle. Im Volksstimme-Interview spricht er über Lebensqualität und Leiden im Alter und über den Zustand der Koalition. Die Fragen stellte Reporter Christopher Kissmann.

Volksstimme: Herr Bischoff, was gefällt Ihnen eigentlich an Magdeburg nicht mehr?
Norbert Bischoff: (lacht) Gefallen tut mir in Magdeburg das Allermeiste. Aber es ist ja auch die Frage, was gefällt mir woanders noch mehr?

Und da sind Sie zu dem Ergebnis gekommen, dass Sie im nächsten Jahr nach Halle ziehen werden.
Ja, dort bin ich näher an meiner Heimat Helbra, meiner Familie und meinen Freunden. In Halle habe ich mein Studium begonnen, einige meiner Kommilitonen wohnen heute noch dort.

Ihr Umzug wird nicht von kurzer Dauer sein. Sie planen gerade den Bau eines Mehrgenerationenhauses, in dem Sie alt werden können. Wie ist es dazu gekommen?
Ich suche schon seit zehn Jahren nach einem geeigneten Objekt, in dem ich ein solches Projekt verwirklichen kann. Früher habe ich immer gedacht: Ich mache später mal ein "Altenprojekt", also mit Freunden im Alter zusammenziehen. Aber gerade in meiner Zeit als Sozialminister habe ich gemerkt: Ich mag es, mit Kindern und Eltern zusammen zu sein und bin auch gern mit älteren Menschen unterwegs. Warum also nicht ein Projekt starten, bei dem alle Generationen zusammenleben? Das ist mein Traum. Jetzt ist das Objekt gefunden. Ich freue mich schon auf den Um- und Ausbau.

Sie glauben fest daran, dass das funktioniert?
Ja, weil ich glaube, dass die Vorteile überwiegen. Wir können uns gegenseitig helfen und unterstützen. Wir werden uns sicher auch mal auf den Keks gehen und streiten. Aber das ist ja völlig normal, das gibt es in jeder Familie. Wir werden die Anlage aber auch so gestalten, dass jeder seinen persönlichen, privaten Bereich hat.

Wie weit sind Sie?
Wir bauen jetzt erstmal vier Wohnungen. Um Ostern werde ich dort mit Freunden einziehen. Die sind alle zwischen 50 und 82 Jahre alt. Auf dem Gelände ist aber noch mehr Platz. Nach und nach sollen weitere Wohnungen und Gemeinschaftsräume entstehen. Auch von allen nutzbare Gästezimmer und eine Sauna unter dem Dach wird es geben. Wir wollen Autos teilen, da bin ich ein großer Fan von. Und dann werden wir uns noch eine gemeinsame Aufgabe suchen: ein Schulprojekt unterstützen, Kunstausstellungen zeigen, Studenten fördern - mal sehen, in welche Richtung das gehen wird.

Halten Sie Mehrgenerationenhäuser angesichts der demografischen Entwicklung - wir werden als Gesellschaft weniger und immer älter - für ein praktikables Modell?
Ich denke schon. Wenn bei älteren Menschen immer weniger klappt, ist das Pflegeheim oft der letzte Ausweg. Wieso eigentlich? Gibt es keinen anderen Weg? Klar, oft ist die Familie nicht mehr in der Nähe, die Kinder ziehen in die Welt, die Wirtschaft macht ihre Vorgaben. Aber man sollte schauen, welche Möglichkeiten es noch gibt. Ich bin überzeugt, dass ein Großteil der Menschen den Alltag oft gar nicht mit der Familie, sondern viel aktiver mit Freunden lebt. Und da kann man die Frage stellen: Welche Verbindlichkeit steckt in diesen Beziehungen?

Welchen Rahmen kann hier die Politik schaffen?
Vor einigen Jahren sind die Wohnungsgenossenschaften zu mir gekommen und haben gesagt: "Sozialminister, wir machen betreutes Wohnen. Da brauchen wir Beratungs- und Begegnungsmöglichkeiten. Könnt ihr das nicht mit unterstützen?" Da fiel mir auf: Wieso kommt jemand auf die Idee, dass, wenn man älter wird, man gerne unter Alten lebt? Es ist ja auch nicht so, dass Behinderte nur unter Behinderten leben oder Eltern mit Kindern nur dort, wo Eltern mit Kindern sind. Die Mischung ist wichtig: Jung und Alt, Familien und Alleinerziehende, Ausländer und Inländer. Solche Projekte sollte die Politik fördern. Das können wir nicht verordnen, aber unterstützen.

Wie?
Das Land kann da relativ wenig machen, wir können das nur anregen. Ich würde mir wünschen, dass auf kommunaler Ebene und bei den Wohnungsgenossenschaften etwas passiert. Das muss nicht immer gleich mit Geld sein, mit einer kostenfreien Beratung wäre schon viel erreicht: Am Anfang brauchen die Leute vor allem Hilfestellung bei Behördengängen, bei Bauanträgen, bei der Suche nach geeigneten Objekten und so weiter. Die Kommunen sollten ein ureigenstes Interesse daran haben, dass solche Projekte entstehen. Das steigert die Lebensqualität vor Ort.

Je älter man wird, desto wichtiger wird das Thema Gesundheit. Sie sind nicht nur Arbeits- und Sozialminister, sondern auch für den Bereich Gesundheit zuständig. Wo sehen Sie Chancen und wo die Gefahren für eine älter werdende Gesellschaft in Sachsen-Anhalt?
Die große Chance ist, dass die Älteren heute gesundheitsbewusster leben. Sie ernähren sich gesünder, viele treiben auch im höheren Alter noch Sport. Die Gefahr sehe ich darin, dass Ältere, wenn sie nicht gebraucht werden, vereinsamen und psychisch krank werden. Da spielen Medikamentenmissbrauch und manchmal auch Alkohol eine große Rolle. Die Selbstmordrate ist bei denen am höchsten, bei denen der Partner gestorben ist. Da könnte man im sozialen Zusammenleben noch mehr machen, damit die Menschen gesund bleiben. Wer sich nur noch um sich selbst dreht, bei dem wird jede Krankheit "wichtig".

Inwiefern unterscheiden sich da Männer und Frauen?
Sehr. Wenn ich in Altenzentren unterwegs bin, sieht man häufig nur die Frauen. Die Frauen basteln, tanzen, singen im Chor. Ich frage dann immer: "Und wo sind die Männer?" Dann sagen die Frauen oft: "Ach, die sind in ihrem Zimmer." Männer sind Einzelgänger und häufig nicht so oft in Gemeinschaft zusammen. Man muss die Männer aus dieser Einsamkeit hervorlocken. Ich würde es gerne sehen, wenn zum Beispiel Altenheime mehr Partnerschaften mit Kindergärten eingehen würden. Dort könnten sich gerade die Männer mehr einbringen und mit den Kindern Vogelhäuschen bauen. Da wären sie der Star. Männer wollen halt einfach nicht nur Kaffeetrinken und zum Singekreis gehen.

Sie selbst haben fast immer in Gemeinschaft gelebt. Aber das war oft auch nicht einfach: Sie sind in einer Großfamilie als fünfter von sechs Jungen aufgewachsen. Sie sind zweimal geschieden, haben selbst vier Kinder. Früher waren Sie katholisch, heute evangelisch. Wie sind Sie mit den Brüchen umgegangen?
Ich sage mir das immer wieder: Ich habe unheimliches Glück in meinem Leben gehabt, keiner der Brüche hat mich aus der Bahn geworfen. Der Grat war besonders in der Wendezeit sehr schmal. Rückblickend sage ich: Da war zwischen arbeitslos und Minister alles möglich. Ich bin von der katholischen Kirche als Referatsleiter ins Sozialministerium gewechselt, 1994 dann in den Landtag gewählt worden. Ich habe die richtigen Leute zur richtigen Zeit getroffen, das war großes Glück. Nun, am Ende meiner beruflichen Laufbahn, habe ich mit dem Ministeramt eine so tolle Funktion übertragen bekommen. Ich bin immer wieder mit so vielen tollen Menschen zusammen. Da kann ich nur dankbar dafür sein. Ich bin mir ziemlich sicher: Da oben lenkt jemand mit.

Würden Sie für ein Ministeramt 2016 noch mal zur Verfügung stehen?
Ich lasse das völlig offen. Das wird nach der Wahl entschieden. Ich mache die Aufgabe mit großer Leidenschaft.

Als Stadtrat haben Sie sich in Magdeburg bereits Anfang Juli zurückgezogen.
Ja, das war eine ganz bewusste Entscheidung. Ich wollte Klarschiffmachen. Nicht dass es dann heißt, der Minister baut da ein Haus in Halle und ist gar nicht mehr mit dem Herzen in Magdeburg bei der Sache.

Sie kennen beide Städte sehr gut. Was schätzen Sie an Magdeburg und an Halle?
Magdeburg hat perfekte Straßen und super Fahrradwege. Da kann Halle nicht mithalten. Selbst in den teuren Vierteln sind die Straßen und die Bürgersteige katastrophal. Aber das stört die Hallenser nicht, ich glaube, das wird in zehn Jahren auch noch so sein. In Halle mag ich die schöne Innenstadt und das breite Kulturangebot. Darauf freue ich mich. Und ganz ehrlich: Ich bin für beide Städte ein bisschen Lokalpatriot.

Wenn Sie als Minister weitermachen würden, wäre der Weg von Halle ins Ministerium nach Magdeburg jeden Tag ungleich weiter. Entscheidend ist, wie die Landtagswahl im März 2016 ausgeht. Sie selbst leben bereits in einer rot-roten Koalition, Ihre Partnerin ist Linken-Landeschefin Birke Bull. Die SPD kann sich Rot-Rot vorstellen. Welche persönlichen rot-roten Erfahrungen werden Sie Ihrer Partei mit auf den Weg geben?
Ich bin offen, sehe einige Punkte bei der Linken aber auch kritisch. Eine Koalition muss vor allem verlässlich sein. Ich finde es richtig, dass wir uns als SPD alle Möglichkeiten für die Zeit nach der Wahl offenhalten. Erst dann wird die Frage sein: Mit welchem Partner kriegen wir die meisten Dinge durch? Heute würde ich noch gar nichts empfehlen, weder Rot-Rot noch Schwarz-Rot. Für mich zählt das Jetzt: Und da sind CDU und SPD in der Pflicht, gut zu Ende zu regieren - die vielen Streitpunkte aktuell gefallen mir gar nicht. In einer Koalition muss man sich gegenseitig stützen.

"Ich habe unheimliches Glück gehabt. Zwischen arbeitslos und Minister war alles möglich."