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Spitzenkandidaten vor der Wahl / Heute: Jens Bullerjahn (SPD) Bullerjahns Endspurt: Viele Termine, viele Gesichter und eine letzte Chance

Von Jens Schmidt 12.03.2011, 05:27

Die Volksstimme stellt in einer Serie die Spitzenkandidaten von CDU, Linken, SPD, FDP und Grünen vor. Bisher erschienen Claudia Dalbert (Grüne) und Veit Wolpert (FDP). Heute: Jens Bullerjahn (SPD). Da Wolfgang Böhmer (CDU) nicht mehr antritt, wird Sachsen-Anhalt einen neuen Ministerpräsidenten bekommen. Bullerjahn strebt dieses höchste Regierungsamt an.

Magdeburg. Sie hatten schon zehn Punkte zurückgelegen. Da schien nichts mehr zu machen. Doch dann ein Aufbäumen, ein Hoffen. Bis zu diesem schwarzen März. Zwei Niederlagen hintereinander. Und nun die dritte? "Ich sag‘ lieber nichts mehr", seufzt Jens Bullerjahn. Der SPD-Spitzenmann sitzt im Auto, macht sich auf den Weg nach Halle zu einem Gewerkschaftskongress. Es ist Sonnabend, es ist Wahlkampf zwei Wochen vor Ultimo – es ist Bundesliga. In wenigen Stunden werden die Bayern bei Hannover 96 antreten. Seine Bayern. Für die Sportschau hat Bullerjahn eh selten Zeit, jetzt schon gar keine. Den Ergebnisdienst übernimmt der älteste Sohn. Dem macht es in dieser Saison besonders viel Freude, seinem Vater am Handy die Resultate durchzugeben. Sohnemann ist Dortmund-Fan, und Tabellenführer Borussia fegt derzeit fast jeden vom Platz. "Van Gaal ist wohl nicht mehr zu halten", sagt Bullerjahn an jenem Sonnabendmorgen. Am Abend hat Bayern wieder verloren. Der Bayern-Trainer van Gaal wird zum Saisonende gehen.

Bullerjahns SPD lag lange hinten. Bei Wahlen, bei Umfragen. Viel mehr als 20 Prozent kamen nicht heraus, man klebte auf Rang drei – weit hinter der CDU, neun und mehr Prozentpunkte hinter der Linken. Im Februar wendet sich das Blatt. Die Umfrage sieht die SPD auf drei Punkte an die Linke herangerückt. Die aktuellen Umfragewerte sind noch besser: Vorgestern Abend nur noch ein Punkt auf die Linke, gestern früh Gleichstand. Hält die SPD den Endspurt durch? Bullerjahn muss ein ordentliches Resultat bringen. Noch so ein blasses Ergebnis wie 2006 – und seine Tage als starker Mann in der SPD wären gezählt.

Kein Angstschweiß, es roch nach Langeweile

Viele in der SPD hatten sich schon auf fünf weitere Jahre Juniorpartnerschaft mit der CDU eingerichtet. Und für den Fall, dass die Partei doch zulegen sollte, öffnete sich die SPD halt auch für Rot-Rot mit der Linken. Oppositionsangstschweiß trat niemandem auf die Stirn - Bullerjahn hatte einen Ministerposten faktisch sicher - so oder so. Es roch nach Langeweile im Wahlkampf 2011.

Doch nun ist alles anders. Staunen und Raunen. Denn: Sollte es die SPD schaffen, käme es zu einem Regierungswechsel. Bullerjahn selbst sagt das jetzt nicht. Doch da sind sich fast alle einig, ob sie nun Bullerjahn mögen, ablehnen, bekämpfen oder nur beobachten: Sollte die SPD auch nur um eine Stimme stärker werden als die Linke, schwenkt er auf Rot-Rot. Bullerjahn würde sich die Chance nicht entgehen lassen, nach der Krone zu greifen, Ministerpräsident zu werden, die wichtigsten Posten mit seinen Genossen besetzen zu dürfen und – nicht zuletzt – der Frontmann in Sachsen-Anhalts SPD zu bleiben.

Es wäre vermutlich auch seine letzte Chance. Denn Bullerjahn hatte bei seinem ersten Anlauf als Spitzenkandidat 2006 die Wahl einigermaßen vergeigt. Er hatte noch weniger Stimmen für seine SPD geholt, als der schwerst angeschlagene Reinhard Höppner vier Jahre zuvor. Dass es im tiefen Tal noch eine Senke geben könnte, in die die SPD tappt – das war ein Schock. Tröstlich war, dass es dennoch reichte, um aus der Opposition in die Regierung zu wechseln. Doch die Messlatte liegt nun 2011 höher. Daher geht es um viel für die SPD und Bullerjahn. Es ist spannend.

Werbung der anderen Art: Böhmer für Bullerjahn

Bullerjahns Taktik geht bislang auf. Seine Wahlkampfberater haben ganze Arbeit geleistet – Bullerjahns Gesicht ist auf Großplakaten fast überall zu sehen. Die Kampagne kommt im Gegensatz zu 2006 allgemein gut an. Seine Botschaft, dass Rot-Rot nur unter seiner Führung möglich ist, offenbar auch. Rot-Rot unter einem Regierungschef der Linken – dieses deutsche Novum soll es nicht geben, jedenfalls nicht in Sachsen-Anhalt. Auch wenn deren Spitzenmann Wulf Gallert heißt und Bullerjahns Duzfreund ist. Es ist durchgedrungen: Wer Rot-Rot leidenschaftlich ablehnt, der dürfte ohnehin nicht SPD wählen. Wer aber Rot-Rot eine Chance geben will – und das sind laut Umfragen etwa ein Drittel aller Wähler – der muss für die SPD stimmen.

Bullerjahn ackert und rackert, macht Termine am Fließband. Im Ministerium ist Finanzminister Bullerjahn kaum noch anzutreffen.

Er greift auch zu Mitteln, die es in Sachsen-Anhalts Wahlkamfgeschichte noch nicht gegeben hat: Bullerjahn wirbt für sich, indem er Böhmer huldigt. Dass ein SPD-Genosse mit dem hohen Ansehen eines CDU-Granden für sich Wahlkampf macht – das ist neu. In einem Wahlwerbespot Bullerjahns bekommt Böhmer eine Art zweite Hauptrolle und zeigt beide Männer im freundlichen Miteinander. Ein CDU-Film hätte Böhmer nicht besser ins Licht setzen können. In einem Faltblatt Bullerjahns, das jetzt in vielen Briefkästen lag, steht denn auch: "Prof. Böhmer tritt nicht mehr an. Ich bewerbe mich um das Amt, damit Sachsen-Anhalt weiter gut geführt wird." Dass Böhmer in der CDU ist – kein Wort davon. Man könnte denken: Böhmer sei einer aus Bullerjahns Partei. Und Bullerjahn nun, folgerichtig, Böhmers auserwählter Nachfolger. Das ist gewieft – verlogen ist es nicht.

Bullerjahn achtet Böhmer wirklich und er bewundert ihn auch ein bisschen – den "Alten", wie er mit stoischer Ruhe, blitzgescheit und rhetorisch geschickt die Dinge durchsetzt. Böhmer ist der einzige CDU-Politiker, zu dem Bullerjahn gern aufblickt. Alle anderen werden maximal auf Augenhöhe taxiert. Das bekam die CDU auch zu spüren, als sie kurz erwog, Böhmer in die Rente zu schicken, um ihren Spitzenkandidaten Haseloff schon vor 2011 zum Ministerpräsidenten zu küren. Bullerjahn, taktisch geschickt. ließ keine Zweifel daran, dass er nur Böhmer als Chef in dieser Legislaturperiode akzeptiert. Die CDU musste das zähneknirschend hinnehmen. Haseloff bekam so keine Chance, sich einen Amtsbonus als Regierungschef zu erarbeiten.

Böhmer schätzt auch Bullerjahn und sagte - mehrmals laut vernehmbar – er wünschte sich so einen weitblickenden, hart arbeitenden Strategen in seiner eigenen Partei.

Diesen Ruf hatte Bullerjahn nicht von Anfang an. Von 1994 bis 2002, zu Zeiten der SPD-Minderheitsregierung, war er dem Tagesgeschäft verhaftet. Zusammen mit Wulf Gallert von der PDS zimmerte er die Landeshaushalte. Dass er damals lange so leichtfertig Schulden auftürmte, wurmt ihn heute. Finanzpolitik ließe sich in Sachsen-Anhalt – ähnlich wie in Sachsen – wesentlich entspannter betreiben, wenn er damals weitblickender agiert hätte. Fast 9000 Euro Schulden lasten heute auf jeden Sachsen-Anhalter. Beim sächsischen Nachbarn sind es keine 1600 Euro pro Kopf. Erst 2004, in der Opposition, begann der Taktiker Bullerjahn auch konsequent strategisch zu arbeiten. Er legte seine vielbeachtete Finanzanalyse Sachsen-Anhalt 2020 vor. Seitdem vergeht kein Jahr, in dem Bullerjahn die Sachsen-Anhalter nicht mit neuen Zahlenreihen versorgt, die penibel auflisten, wo Personal und Geld gestrichen werden muss. Oder besser gesagt: Müsste. Es bleibt vieles im Konjunktiv. Und da liegt ein Manko Bullerjahns. Probleme werden in aller Dramatik dargestellt - aber ihre Lösung oft in die Zukunft verschoben. Bullerjahn versieht seine Analysen gern mit dem Hinweis, dass er nur Vorschläge macht – die Kollegen in Kabinett und Landtag aber müssten nun die Schwerpunkte setzen. Also: Mehr Lehrer, dafür weniger Polizisten. Diese Prozedur wiederholte sich ein paar Mal, auf klare Entscheidungen wartet Sachsen-Anhalt bis heute. Am Ende der Regierungszeit bekam das Kultusministerium alle Lehrerstellenwünsche erfüllt - wer aber dafür bluten soll, ist unklar. Das soll die nächste Regierung klären.

Aber wie?

Die CDU hat schon angekündigt, bei der Polizei nicht sparen, sondern noch draufsatteln zu wollen. Die Linke ist auf Personalkürzungen auch nicht gut ansprechbar.

Nun lässt man einem Finanzminister noch durchgehen, dass er die Schwerpunktsetzung anderen überlässt – als Ministerpräsident muss er die Richtlinien vorgeben. Zugute halten muss man Bullerjahn, dass Regierungschef Böhmer in seiner zweiten Amtszeit das Skalpell bei den Ausgaben nicht ansetzen wollte, um das miesgelaunte Volk in der Finanzkrise nicht noch weiter zu reizen.

Wie berechenbar ist der Minister der Finanzen?

Bullerjahns ehrliches Streben stellt fast niemand in Abrede. So trifft er mit einem Pensionsfonds für Beamte Vorsorge (was viele Länder lange nicht machten). In der Finanzkrise hebt er sich mit einer selbstkritischen Sicht auf Politik und Schuldenmacherei wohltuend ab vom allgemeinen Gezeter über böse Finanzhaie. Aber auch wohlgesonnene Weggefährten hegen mitunter Zweifel, ob er genügend Umsetzungskraft, innere Ruhe und das nötige Fingerspitzengefühl in Personalfragen hat. Bullerjahn fehlt (noch) das Gleichmaß, die Berechenbarkeit. Bullerjahn kann in einem Monat eine Idee mit Inbrunst vertreten, um dieselbe Idee im nächsten Monat mal eben so vom Tisch zu wischen. 2006 verkündete der frisch gebackene Finanzminister Bullerjahn, alle Ausgaben auf den Prüfstand zu stellen, um die erdrückende Schuldenlast zu mindern. Als 2007 die Steuer- einnahmen sprudelten, mussten jedoch Abgeordnete aus Koalition und Opposition den Sparminister heftigst drängen, die Kreditlinie nun endlich auf Null zu fahren. Nun, 2011, erlebt das Land wieder einen ganz anderer Bullerjahn; einen Finanzpolitiker, der für die Schuldenbremse trommelt.

"Wenn er nicht gelassener wird, hält er das nicht durch"

Jens Bullerjahn hat viele Gesichter. Rein äußerlich schon. Haar mal lang, mal kurz; das Gesicht mal voll, mal schlank. Das ist kein Modetick. Das Äußere spiegelt innere Untiefen wider. So seinen Hang, sich hineinzufressen in die Arbeit, bis über die gesundheitliche Schmerzgrenze hinaus. Zwei Mal musste er schwer erkrankt pausieren, verlor er viele Pfunde. Als Ministerpräsident käme noch mehr auf ihn zu. Bullerjahn kommt mit fünf, sechs Stunden Nachtschlaf aus. Er dachte lange, anderen reiche das auch. Unter Regierungsmitarbeitern hält sich der Spruch: Wer unter Bullerjahn arbeitet, muss immer auf Empfang sein. Sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. 2009 kam es zur Revolte im eigenen Ministerium. Bullerjahns Staatssekretär schmiss das Handtuch und ging nach Berlin. Bullerjahns Berater und Sprecher schilderte in einem Brief an die Partei die Lage als unerträglich. Das Wort "Tyrannei" fiel. Bullerjahn ist keine Klimamaschine. Alle Abteilungsleiterstellen in seinem Ressort sind quasi verwaist. Das ist ein einmaliger Vorgang in Sachsen-Anhalts Exekutive. Bullerjahn hat seine Wunschkandidaten für diese Posten bisher nicht durchbekommen, da andere Beamte Konkurrentenklage erhoben haben.

Bullerjahn ordnet mittlerweile seine Arbeit besser, kämpfte sich aus der Krise heraus. Aber er kann sich natürlich auch nicht neu erfinden. Bullerjahns Seele steht manchmal offen wie ein Scheunentor – Kritik hat dann freie Bahn bis ins Mark.

Böhmer hört nach neun Jahren an der Regierungsspitze auf. Fünf Jahre lang war Bullerjahn sein Stellvertreter. Böhmer, vor der Politik viele Jahre Chefarzt, sagte mal in einer Runde mit Journalisten, "Wenn er nicht gelassener wird, hält er das nicht durch."