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Magdeburg: Transport zur Lebenshilfe abgelehnt / Öffentliche Verkehrsmittel haben Vorrang vor Behinderten-Fahrdienst Eltern sollen behinderten Sohn auf dem Weg zur Arbeit begleiten

Von Silke Janko 08.04.2011, 06:27

Magdeburg. Tino Albrecht ist ein fröhlicher junger Mann – der 20-Jährige fährt von montags bis freitags gegen 6.20 Uhr mit einem kleinen VW-Bus von der elterlichen Wohnung in Magdeburg in die Werkstatt der Lebenshilfe, am Abend gegen 17 Uhr liefert der Bus ihn wieder vor seiner Haustür ab. In der Werkstatt der Lebenshilfe sortiert er im Elektrobereich Schrauben oder verpackt Filzstifte, je nachdem, welche Arbeiten anliegen.

Tino Albrecht ist geistig behindert, Down-Syndrom. Er kann weder einen Fahrplan lesen noch Beschriftungen von Bus oder Straßenbahn. Er kann sich in seiner vertrauten Umgebung orientieren, aber sich zeitlich nach der Uhr zu orientieren, dazu ist er nicht in der Lage.

Ob er aber weiter den Fahrdienst der Firma "Sonnenschein", ein bundesweit agierendes Unternehmen, das ausschließlich auf die Beförderung Behinderter spezialisiert ist, weiter nutzen kann, ist derzeit ungewiss. Seit Ende März erfolgt der Transport auf Kulanzbasis. Denn ob der geistig Behinderte Anspruch auf einen Fahrdienst von und zur Arbeit hat, darüber streiten derzeit die Eltern mit dem Magdeburger Sozialamt. Ausgang offen. Bleibt es dabei, könnte dem Behinderten der Besuch der Lebenshilfe-Werkstatt unmöglich werden. Nach Aussagen der Amtsärztin würde ihn das Benutzen einer Straßenbahn, eventuell mit Umsteigen, völlig überfordern.

Lebenshilfe-Geschäftsführerin Heike Woost erklärte in einem Brief an den Sozialbeigeordneten Hans-Werner Brüning (Linke) ihren Unmut. Sie habe zunehmend den Eindruck, "dass eine individuelle Entscheidung für eine Leistungsgewährung, auf der Grundlage von bundesweit geltenden Gesetzen, kein Maßstab des Verwaltungshandelns mehr ist und der Mensch mit Behinderung wieder zum Objekt willkürlicher Verwaltungsentscheidungen wird."

Das Sozialamt der Stadt Magdeburg als überörtlicher Sozialhilfeträger beruft sich dabei in seinem Ablehnungsbescheid vom 22. März auf das Rundschreiben 31/98 der Sozialagentur Halle, der obersten Verwaltungsbehörde, die die Belange von Behinderten und Menschen in schwierigen Lebenslagen im Auftrag des Landes koordiniert. Nach deren Vorgaben werden die Kosten für einen Fahrdienst nur gewährt, wenn im Schwerbehindertenausweis entweder das Merkzeichen "H" (Hilflosigkeit) oder "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) eingetragen ist.

Beides liegt für den geistig behinderten Mann nicht vor. In solchen Fällen sind die zuständigen Mitarbeiter gehalten, eine Einzelfallentscheidung zu treffen. Beim Magdeburger Sozialamt erkennt man zwar an, dass die Fahrt mit Straßenbahn und Bus den geistig Behinderten völlig überfordern würde. Es ist aber der Ansicht, dass eine Begleitung des 20-Jährigen durch die berufstätige Mutter mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Privat-Pkw durchaus zumutbar ist. Die Sachbearbeiterin erkennt keine Gründe, so formuliert sie in dem Ablehnungsbescheid, warum die Mutter dies nicht tun kann. Frau Albrecht arbeitet täglich von 7 bis 16 Uhr, ihr Mann im Wechselschichtsystem – die Begleitung ihres schwerbehinderten Sohnes in die Werkstatt ist für die Familie nach eigener Aussage nur schwer zu organisieren.

Die Mutter, Undine Albrecht, versteht die Welt nicht mehr. Sie räumt ein, als vor zwei Jahren ihrem Sohn das Merkzeichen "H" mit Abschluss seiner Ausbildungszeit aberkannt wurde, nicht reagiert zu haben. Bis dahin lief auch alles reibungslos: Ihr Sohn ging in eine Förderschüle, wurde per Fahrdienst dorthin gebracht. Seit dem 1. September 2008 bis Ende November 2010 besuchte er den Berufsausbildungsbereich in der Lebenshilfe. Kostenträger für den Fahrdienst war für diesen Zeitraum die Bundesagentur für Arbeit. Erst ab dem 1. Dezember 2010, seitdem ihr Sohn in den Arbeitsbereich der Lebenshilfe-Werkstatt eingegliedert ist, begannen die Probleme. Die Stadt Magdeburg hatte vor-übergehend per vorläufigem Bescheid den Fahrdienst genehmigt – bis Ende Februar. Und jetzt den Antrag abgelehnt. Sowohl Lebenshilfe als auch die Eltern hatten sich an das Sozialamt der Stadt Magdeburg gewandt. Auch läuft beim Landesverwaltungsamt ein Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid zum Antrag auf Neufeststellung des Merkzeichens "H".

Petra Bendik vom Begleitenden Sozialen Dienst der Lebenshilfe: "Unverständlich ist, dass ein und dasselbe Amt bei ähnlich gelagerten Fällen völlig gegensätzlich entscheidet. Den Fahrdienst einmal genehmigt, ein anderes Mal nicht." Offensichtlich gibt es derzeit einen Trend zur Ablehnung von Anträgen auf Fahrdienst.

Die Kosten für eine Person beziffert Bendik auf durchschnittlich 160 Euro monatlich, rund acht Euro pro Arbeitstag. Von den rund 500 behinderten Mitarbeitern in den Magdeburger Lebenshilfe-Werkstätten ist etwa jeder Dritte auf den Fahrdienst angewiesen, der von 26 "Sonnenschein"-Fahrzeugen durchgeführt wird. Da kommen monatlich rund 40 000 Euro zusammen, die letzlich vom Land Sachsen-Anhalt finanziert werden. Landesweit, so das Sozialministerium, belaufen sich die Fahrdienstkosten für behinderte Menschen auf 12 bis 13 Millionen Euro jährlich. Die Anträge dazu stellen die Behinderten oder deren Betreuer bei den Sozialämtern der Landkreise und kreisfreien Städte, die im Auftrag des Landes eine Prüfung vornehmen.

Das Misstrauen der Lebenshilfe kommt nicht von ungefähr. Die Sozialagentur hat bereits im November 2010 in ihrem Arbeitshinweis 7/2010 verschärfte Vorgaben für die Genehmigung des Fahrdienstes für Behinderte gemacht, die letztlich Einsparungen zu Lasten der Behinderten bedeutet hätten. Der Arbeitshinweis, so heißt es bei der Lebenshilfe, sei zwischenzeitlich ausgesetzt worden. Die Ämter werden darin angewiesen zu prüfen, ob die Behinderten für ihre täglichen Fahrten auf das "in den letzten zehn Jahren fortent-wickelte und sehr gut ausgebaute Netz des öffentlichen Personennahverkehrs zurückgreifen können". Künftig soll auch eine amtsärztliche Aussage bei der Entscheidung, ob ein Fahrdienst genehmigt wird oder nicht, keine Rolle mehr spielen. Ausdrücklich heißt es in dem Papier, dass selbst einem Rollstuhlfahrer öffentliche Verkehrsmittel zuzumuten sind.

Papier nach Kritik zurückgezogen

Der Sprecher des Sozialministeriums, Holger Paech, erklärte, dieses Papier sei nach Kritik von zahlreichen Landkreisen und Städten bereits im Dezember wieder zurückgezogen worden. "Es hat Ängste ausgelöst, die so nicht beabsichtigt waren. Es wird auch nicht in Kraft treten." Allerdings solle auch künftig auf den öffentlichen Nahverkehr zurückgegriffen werden. Es bestehe auch weiterhin die Intention, Menschen mit Behinderung zu integrieren und keine Leistungsansprüche zu beschneiden.

Im 2001 vom Landtag beschlossenen Behindertengleichstellungsgesetz heißt es unter anderem: "Behinderte Menschen haben einen Anspruch auf gleiche Teilhabe am Leben in der Gesellschaft." Sie dürfen nicht durch Tun oder Unterlassen von Staat und Gesellschaft diskriminiert oder benachteiligt werden.