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Runderlass aus dem Kultusministerium verärgert Eltern mit behinderten Kindern Keine Betreuung: Felix muss früher nach Hause

Von Martin Rieß 04.10.2011, 06:45

Was tun, wenn ein Kind mit Behinderung Schulschluss hat? Oft können die Eltern dieses nämlich nicht einfach so nach Hause gehen lassen. Behinderte Kinder müssen oft rund um die Uhr betreut werden. Eine anstrengende Arbeit, die erschwert wird, wenn es keinen geeigneten Hort gibt und die schulischen Angebote verkürzt wurden. Zwei Betroffene aus Stendal haben sich an die Volksstimme gewendet.

Stendal. "Zug!" Felix ist begeistert. Die roten Wagen der Regionalbahn rollen auf dem Gleis des Stendaler Hauptbahnhofes vor, die Bremsen quietschen. Passagiere steigen ein und aus. Der Zwölfjährige und seine Mutter Simone Warchhold bleiben, wo sie sind. Sie sind hier, um sich Züge anzuschauen. Viel mehr als "Zug!" hat der Junge in den vergangenen Minuten nicht gesagt. Der Ausflug zum Bahnhof mit seiner Mutter ist eine seine Lieblingsbeschäftigungen.

Allein würde er allerdings nie hierherkommen. Denn Felix ist geistig schwer behindert. Pflegestufe II. Sauerstoffmangel während der Geburt, haben die Ärzte gesagt. Felix kann nur wenige Worte sprechen, wird nie lesen oder schreiben können.

Der aufgeweckte und zuweilen auch recht laute Junge kennt kein Angstgefühl. Was Eltern von nichtbehinderten Kindern möglicherweise als eine Art Kompliment empfinden würden, ist in seinem Fall eine Gefahr: Ständig muss jemand mit dabei sein, damit ihm nichts passiert. Ein Leben unter Strom ist das für die Eltern. Und trotzdem: Wenn sich Simone Warchhold liebevoll beispielsweise während eines Ausflugs zum Bahnhof um ihren Sohn kümmert - dann ist dies das Bild einer intakten Familie.

"An den Behinderten wird wieder einmal gespart"

Für alles andere als intakt hält die Stendalerin aber den neu eingeführten Wechsel von Unterrichtsphasen und Pausen an der Förderschule, an der Felix lernt. An einem Tag schließe sich so an das Frühstück eine weitere lange Pause an. "Eigentlich sollten die Kinder an der Förderschule ja auf ihr Arbeitsleben vorbereitet werden - das passiert damit nicht mehr." Im Falle von Menschen mit einer geistigen Behinderung bedeutet Arbeitsleben oft die Anstellung in einer geschützten Werkstatt. Doch auch dort sind die Pausen ebenso wie in anderen Unternehmen kurz gehalten - ein Tagesrhythmus, den die Kinder jetzt nicht mehr lernen, meint Felix\' Mutter.

Philipp Hoffmann ist Sprecher im Magdeburger Kultusministerium und argumentiert für die Pausenzeiten: "Zumindest für die Schüler sind die Pausenzeiten nicht zu lang. Sie sind so festgesetzt, dass zwischen den Unterrichtsphasen genügend Entlastung möglich ist." In Sachen Vorbereitung aufs Berufsleben würden die Schüler angeleitet und sollen unter Umständen auch selbstständig konzentriert Arbeitsaufträge erledigen - und zwar mehrere Stunden täglich. Die Zweifel an den Neuregelungen bleiben bei Simone Warchhold: Die Kinder seien einfach zu verschieden, als dass für alle eine solche Lösung optimal sein könne.

Ebenso verhalte es sich mit dem Nachmittagsunterricht, so Simone Warchhold: Auf dem alten Stundenplan gab es keinen Unterricht nach der Mittagspause. Selbst wenn es dem normalen Arbeitsablauf im Berufsleben nicht entspricht, nach dem Mittag Feierabend zu machen, meint Simone Warchhold: "Am frühen Nachmittag lernen geistig behinderte Kinder, gerade wenn sie wie Felix Probleme haben, sich zu konzentrieren, kaum noch etwas. Ich arbeite beruflich selbst mit behinderten Menschen und weiß daher genau, wovon ich spreche." Hoffmann erwidert indes: "Es ist nicht ersichtlich, weshalb sich Schüler an Förderschulen allesamt nach einer angemessenen Mittagspause in einem Leistungstief befinden sollten." Im Einzelfall sollte nach Einzellösungen gesucht werden.

"Grundsätzlich ist es so, dass Kinder gerade bei angemessenen Pausen- und Entlastungsphasen immer wieder belastungsfähig und aufnahmebereit sind. Neurologische Untersuchungen bestätigen, dass nach einer angemessenen und erholsamen Mittagspause die Leistungsfähigkeit am Nachmittag wieder vorhanden ist", argumentiert der Sprecher des Ministeriums. Trifft das auch auf ihren Sohn zu, der feste Strukturen benötigt und mit einem Wechsel von Tagen mit und ohne Nachmittagsunterricht nicht zurechtkommt? Simone Warchhold schüttelt nur mit dem Kopf. Die Stendalerin vermutet: "An den Behinderten wird wieder einmal gespart."

"Therapeutische Angebote wurden nicht gestrichen"

Mehrere Eltern haben sich bereits ratsuchend an sie gewendet. Der Grund: Sie ist auch Elternvertreterin an ihrer Schule. Grund für die Nachfragen allerdings ist zumeist ein anderer als der Tagesrhythmus während der Schulzeit. Denn für Felix ist ebenso wie für seine Klassenkameraden an Schultagen um 14.30 Uhr Feierabend. In den Ferien müssen die Eltern auf sich selbst gestellt regeln, wo die Kinder unterkommen. Das war früher nicht so. Dann gab es stets eine weitere Betreuung, ebenso wie in den Ferien. Diese Zeit, in der die Eltern ihre Kinder gut untergebracht wussten, ist weggefallen.

Ministeriumssprecher Philipp Hoffmann erklärt: "Diese lerntherapeutischen Angebote an Schulen wurden nicht gestrichen." Sie seien aber keine Betreuungsangebote, sondern sollen sicherstellen, dass Schüler den Unterrichtsstoff zum Beispiel während längerer Ferien nicht verlernen. Hoffmann: "Die Förderschulen unterbreiten den Eltern Angebote im Zusammenhang mit der Förderplanung. Da diese Angebote einen engen Bezug zur schulischen Förderung haben, sind sie keine Ferienbetreuung im Sinne des Kinderförderungsgesetzes." In diesem ist der Anspruch auf Hortbetreuung auch für behinderte Kinder geregelt (siehe Infokasten).

Eine Klarstellung, die den Betroffenen nur wenig nutzen dürfte. Der Anspruch auf einen Hortplatz lockt bei Simone Warchhold jedenfalls nur ein müdes Lächeln hervor: "Klar, habe ich das Recht darauf, Felix für den Nachmittag im Hort anzumelden." Nur hat sie in Stendal keine für sie erreichbare Einrichtung gefunden, die einen Zwölfjährigen betreuen könnte.

Und auch freiberufliche Fachkräfte, beispielsweise Tagesmütter oder Heilerziehungspfleger, seien für die anspruchsvolle Betreuung geistig Behinderter nicht zu finden. "Der Rechtsanspruch ist nichts als eine graue Theorie", konstatiert folglich die Stendalerin.

Diese Erfahrung hat sie auch schon früher gemacht. Denn von der Krankenkasse hat sie auch Geld bewilligt bekommen, um ihren Sohn Felix stundenweise in Betreuung zu geben. Nur hat sie niemanden gefunden, den sie mit diesem Geld hätte bezahlen können.

"Hansestadt Stendal bekennt sich zu Verpflichtungen"

Einen solchen Versuch haben Sabrina und Steffen Fielitz nicht unternommen. Sie sind seit diesem Sommer zugange, damit ihre Tochter Alyssa betreut werden kann. Die Siebenjährige hat das Down-Syndrom. Familie Fielitz will aus Prinzip nicht bei den Kassen nachfragen: "Es ist doch nicht deren Aufgabe, für die Kommunen einzuspringen!", begründet Sabrina Fielitz ihr Vorgehen. Zunächst war sie in den Amtsstuben des Stendaler Rathauses mit dem lapidaren Hinweis abgespeist worden, dass es eben keine Plätze gebe.

Inzwischen soll ein Rechtsanwalt ihre Interessen durchsetzen. Nach einem Ultimatum hat die Stadt angeboten, dass Alyssa im Hort einer benachbarten Grundschule mitbetreut werde: "Mir wurde eine Einzelbetreuung an der Grundschule Nord angeboten. Meine Tochter sollte dort von einem abgeordneten Heilpädagogen betreut werden", berichtet Sabrina Fielitz. Alyssa wäre ein Hortkind unter vielen Schulkindern der ersten bis vierten Klasse. Um eine integrative Betreuung handelt es sich dabei nach dem Verständnis von Sabrina Fielitz allerdings nicht. Sie habe daher erklärt, dass dies keine adäquate Lösung entsprechend den Bedürfnissen meiner Tochter ist und sie dieses Angebot ablehne. Der Rechtsanwalt werde nun prüfen, ob das Angebot der Stadt dem rechtlichen Anspruch genüge. "Soweit ich das Kinderförderungsgesetz verstanden habe, ist dies definitiv nicht der Fall", so Sabrina Fielitz.

Immerhin muss die Entwicklung ab Sommer dieses Jahres für die Kommune überraschend gekommen sein. Sybille Stegemann, Pressesprecherin der Stendaler Stadtverwaltung, erklärt auf Nachfrage der Volksstimme: "Die Hansestadt Stendal bekennt sich zu ihren Verpflichtungen." Aufgrund der Tatsache, dass die Förderschulen die Unterrichtszeit von 16 Uhr auf 15 Uhr aufgrund eines Runderlasses des Kultusministeriums verkürzt haben, gebe es nun erstmals eine Nachfrage. Derzeit lägen der Hansestadt Stendal nur zwei Antrage auf Hortbetreuung für behinderte Kinder vor - die auch gewährleistet werden soll. Sybille Stegemann ergänzt aber: "Es ist damit zu rechnen, dass auch noch weitere Anträge gestellt werden." Daher verhandle man mit dem Landkreis Stendal, dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe, über Lösungen.

Auch Sabrina Fielitz geht von einem höheren Bedarf aus: "Selbst wenn wir für Alyssa jetzt eine Lösung finden: Es gibt ja ein grundsätzliches Problem, von dem auch andere Eltern betroffen sind. Viele von diesen wissen möglicherweise nicht einmal, dass sie einen Anspruch auf die Betreuung ihrer Kinder haben."

Darauf, wie kompliziert die Situation ist, verweist auch Marcus Hoppe. Er ist Geschaftsführer des Landesverbandes der "Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung" und erklärt, dass für ältere Kinder, für die außerhalb der Schulzeiten keine weiteren Betreuungszeiten anerkannt sind, die Verlängerung der Unterrichtszeiten durchaus von Vorteil sein kann. Dies deckt sich mit der Aussage von Philipp Hoffmann: "In der Förderschule für Geistigbehinderte wurden die Anwesenheitszeit und die Zahl der Unterrichtsstunden sogar erhöht." Auch der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung abseits der Förderschulen habe keinen Einfluss auf die Absicherung der Stundentafel an den Förderschulen. "Wenn es vereinzelt Probleme gibt, so liegt dies nicht an dem Einsatz im gemeinsamen Unterricht, sondern daran, dass es für einige ausgeschriebene Stellen keine geeigneten Bewerber gab und durch Lehrkräfteausgleich die Absicherung des Unterrichts geregelt werden musste", erklärt Hoffmann.

Der Verbesserung für die älteren Schüler steht indes eine erhebliche Verschlechterung für die jüngeren gegenüber, berichtet Marcus Hoppe: "Der entsprechende Runderlass aus dem Kultusministerium hat in einigen Regionen für Wirbel gesorgt." Im Stendaler Ortsverein gebe es Überlegungen, ein entsprechendes Angebot zu entwickeln. Marcus Hoppe sagt grundsätzlich zur Schaffung neuer Hortangebote für Kinder mit Behinderung: "Ein Knackpunkt könnten bei so etwas aber die Räumlichkeiten sein." Der Grund: Die Einrichtung von barrierefreien Räumen bedeutet meist einen erheblichen Umbau. Eine weitere offene Frage sind die lerntherapeutischen Einheiten in den Ferienzeiten und der Umfang der Betreuungsangebote nach Unterrichtsende. Diese Zeiten würden von der Zahl der Hortstunden abgehen, was wiederum einen Einfluss auf die Konzeption und Ausgestaltung eines Lebenshilfe-Hortes haben würde.

"Das ist erst einmal ein Lichtblick"

Immerhin sorgt diese Perspektive schon für ein wenig Optimismus bei Simone Warch-hold. Sie sagt: "Das ist erst einmal ein Lichtblick." Unabhängig davon, ob das Hortprojekt gelingt, werden Kinder über 14 Jahre mit einer Behinderung übrigens nicht automatisch weiterbetreut. Philipp Hoffmann erklärt: "Ob ein weiterer Betreuungsanspruch besteht, wird nach den Regelungen der Sozialgesetzgebung im Einzelfall entschieden. Zuständig sind Träger der Sozialhilfe."

Unterschiedliche Regelungen könnten dabei für den Einzelfall in Betracht kommen, so das Sozialgesetzbuch VII, das Sozialgesetzbuch XII und mitunter auch Regelungen aus den Pflegegesetzen.