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Emotionale Landtagsdebatte zur Lage in Insel Grüne zu Stahlknecht: "Sie haben sich zum Agenten der Straße gemacht"

Von Michael Bock 07.10.2011, 06:23

Der Landtag hat gestern über die zugespitzte Situation in Insel (Landkreis Stendal) diskutiert. In der hoch emotionalen Debatte geriet Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) unter scharfen Beschuss der Opposition.

Magdeburg. DerInnenminister verstand die Welt nicht mehr. Da war er doch am Mittwochabend mit dem guten Gefühl nach Hause gefahren, eine ordentliche Lösung mit herbeigeführt zu haben. Die aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Sexualstraftäter hatten schriftlich erklärt, dass sie Insel verlassen werden. Und die zuletzt von Rechtsextremen unterwanderten Demonstrationen waren abgeblasen worden.

Doch gestern Morgen, noch vor der Landtagssitzung, musste Stahlknecht ernüchtert feststellen, dass nicht jeder seine Einschätzung teilte. Ganz erstaunt soll er gefragt haben: "Warum lobt mich denn keiner?"

"Sie haben der Demokratie einen Bärendienst erwiesen"

Selbst seine grüne Krawatte schützte Stahlknecht im Parlament nicht vor wütenden Angriffen der Grünen. Deren Fraktionschefin Claudia Dalbert redete sich schnell in Rage. Stahlknecht habe eine "One-Man-Show" durchgezogen und den Ex-Häftlingen im Alleingang "in einer Art Haustürgeschäft" die Wegzugserklärung abgerungen. "Damit haben Sie sich zum Agenten der Straße gemacht, Herr Stahlknecht", schleuderte die Professorin für pädagogische Psychologie dem Ex-Staatsanwalt entgegen. "Sie haben der Demokratie einen Bärendienst erwiesen."

Der CDU-Fraktionsvorsitzende André Schröder sprang spontan für Stahlknecht in die Bresche. Der Innenminister habe mit seiner Moderation deeskalierend gewirkt, sagte er mit fester Stimme. So habe er erreicht, dass künftig auf Demonstrationen verzichtet werde.

Doch die Kritik überwog. Auch Linke-Politikerin Eva von Angern knöpfte sich Stahlknecht vor. "Sind Sie bereits mit der Erklärung im Gepäck nach Insel gefahren, um mit der geballten Kompetenz Ihres Hauses den Männern dringend ans Herz zu legen, diese zu unterschreiben?", fragte sie spitz. "Ich sage ganz deutlich: Jetzt, wo die beiden Männer aus Insel wegziehen, haben sich all jene durchgesetzt, die den Rechtsstaat erpresst haben." Auch der Landtag sei zu spät aktiv geworden, konstatierte sie selbstkritisch. "Wir - und damit meine ich tatsächlich alle - sind gescheitert in dem Bemühen, Menschen auch nach Verbüßen einer Freiheitsstrafe eine zweite Chance zu geben."

Mit Blick auf Bürgermeister Alexander von Bismarck (CDU) sagte von Angern: "Die Linke verurteilt aufs Schärfste, wenn politisch Verantwortliche vor Ort latente Ängste von Menschen noch schüren und damit instrumentalisieren." Von Bismarck habe den Aufmarsch von Rechtsextremisten in Insel "billigend in Kauf genommen". Sie ergänzte: "Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir brauchen langfristige und keine ,Insel-Lösungen\'."

Der Auftritt von SPD-Rechtspolitiker Ronald Brachmann war keine Rückendeckung für Stahlknecht. Er sagte, man dürfe "zumindest zweifeln", ob die Wegzugserklärung die eigene, freiwillige, selbstbestimmte Entscheidung der Haftentlassenen gewesen sei.

Siegfried Borgwardt (CDU) erklärte, er nehme die Sorgen und Ängste der Einwohner von Insel sehr ernst. Es sei schwer vermittelbar, dass verurteilte Straftäter "auf die Menschen losgelassen werden", sagte er.

Justizministerin Angela Kolb (SPD) konstatierte: "Die Toleranz in der Gesellschaft nimmt ab." Die Erklärung zum Wegzug sei "kein gutes Signal für eine Resozialisierung". Zugleich verwies sie darauf, dass es in Insel nicht nur Demonstrationen gegeben habe, sondern auch Menschen, die mit den Ex-Häftlingen fernsehen, einkaufen oder grillen würden. Die Meinung aufgebrachter Bürger dürfe nicht über das Recht gestellt werden, fügte Kolb hinzu.

Und Holger Stahlknecht? Dass es für ihn in der Landtagsdebatte so knüppeldick kam, damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Er selbst hörte aufmerksam zu, ans Rednerpult trat er nicht. In der Mittagspause erklärte er vor Journalisten recht gelassen seine Sicht der Dinge. Er sprach von einer "vertretbaren Lösung", bei der er auch die Sicherheit der beiden Männer im Blick gehabt habe. Ganz vorsichtig formuliert hörte sich das so an: "Ich habe die Sorge, dass es Menschen geben könnte, die versuchen könnten, Übergriffe zu machen."

In einer einstimmig beschlossenen Erklärung betonte der Landtag, wie alle anderen Bürger könnten auch Sicherungsverwahrte ihren Wohnort grundsätzlich frei wählen. Zugleich wurde die Ohnmacht der Politik eingeräumt mit dem Satz: "Der grundrechtlich geschützte Freiheitsanspruch der Betroffenen lässt sich aufgrund der aktuell zugespitzten Situation derzeit nur schwer realisieren."

Nein, von einer Kapitulation wolle er jetzt nicht reden, wehrte Stahlknecht ab. "Aber von einer Niederlage des menschlichen Miteinanders."

Ob das nun ein "Sieg der Straße" sei, wurde Angela Kolb gefragt. Die überlegte kurz und sagte dann knapp: "Ich hoffe nicht!"