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In Stendal läuft ein Modellprojekt, das den Anteil von Erziehern in der frühkindlichen Bildung erhöhen soll Von Martin Rieß Männer in Kitas: Der 25-jährige Philipp Hanke aus Tangerhütte ist ein Exot unter Kindern

08.10.2011, 04:25

Bildung und Erziehung im Vorschulalter sind Frauensache. Das soll sich ändern. In Stendal gibt es dazu eines von 16 Modellprojekten. Das männliche Geschlecht ist derweil ein paar Kilometer weiter bereits im Erzieher-Einsatz.

Luca und Ringo, Lea und Alena, Franz und Ida - das sind nur einige der Kinder, die mit Philipp Hanke an den Gärten der Tangerhütter Kleingartensparte vorbei in Richtung Feld toben. Die Kinder haben keinen Blick für die schweren Birnen, die sich hinter der Hecke in den Gärten über die Wege beugen, keinen Blick für die dicken Herbstspinnen, die angesichts der tobenden Kinderschar in die Ecken ihrer Spinnennetze geflüchtet sind.

Denn heute gibt es etwas Neues zu erleben: Drachensteigen ist angesagt. Der 25-jährige Hanke hat für die Kinder aus der Kindertagesstätte "Anne Frank", jüngste Gruppe, seinen Lenkdrachen mitgebracht. Das Rot auf dessen Flügeln leuchtet mit dem Rot der Hagebutten am Wegesrand um die Wette, gelbe, grüne und blaue Streifen machen den Lenkdrachen zu einem bunten Vogel. Das gefällt den Kindern, sie wollen ihn endlich fliegen sehen. Also vorwärts, keine Zeit verlieren!

Auf dem abgeernteten Feld angekommen, steht der Lenkdrachen wenige Minuten später hoch über der Gruppe. Allesamt haben die Köpfe in den Nacken gelegt und schauen in den altmärkischen Herbsthimmel. Ehrensache, dass jeder mal randarf. Von Hanke unterstützt sagt beispielsweise Melina: "Das ist ja gar nicht so schwer", als sie merkt, wie ein Lenkdrachen gesteuert wird: Mit einem leichten Ziehen auf der einen Seite ändert das textile Flugtier seine Richtung.

"Wir haben es längst nicht mehr mit ,Basteltanten\' zu tun"

Was zunächst aussieht, wie der Ausflug eines Vaters mit Kindern zum Eltern-Kind-Tag, ist vielmehr ein Blick in den Alltag der Einrichtung. Philipp Hanke ist nämlich Erzieher und arbeitet hier als Kindergärtner. Und damit ist er ein echter Exot. Zu exotisch, als dass dies so bleiben könnte: Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) sagt dazu: "Kitas sollen zu Einrichtungen werden, in denen Jungen und Mädchen Männer und Frauen als Vorbilder erleben." Aus dem Europäischen Sozialfonds wurde deshalb das Programm "Mehr Männer in Kitas" ins Leben gerufen.

Eines der bundesweit 16 Modellprojekte dazu ist 20 Kilometer von Tangerhütte entfernt angesiedelt: Die Hansestadt Stendal ist Träger des Programms "Kita sucht Mann", welches von Benjamin Ollendorf und Denise Mikoleit vom Verein KinderStärken, einem An-Institut der Hochschule Magdeburg-Stendal, koordiniert wird. Ollendorf: "Im Landkreis Stendal gibt es gerade einmal fünf Männer, die in Kindertagesstätten im pädagogischen Bereich arbeiten." Unter diesen sind auch Praktikanten - nicht allein staatlich anerkannte Erzieher wie Philipp Hanke. Es sei wichtig, dass Kinder Männer als einen Teil der Normalität wahrnehmen, erklärt Ollendorf. Er sagt: "Kinder haben oft die meiste Zeit des Tages nur Frauen um sich. Das soll sich ändern." Und zwar, indem der Anteil der Erzieher mittel- und langfristig auf 20 Prozent erhöht werden soll. Zurzeit liegt dieser Wert in der östlichen Altmark aber noch nicht einmal bei einem Prozent.

Diesen Wandel wollen die Stendaler auf mehreren Wegen bis zum Ende ihres Projektes zum Jahresende 2013 anschieben. "Gerade in Westdeutschland hat die frühkindliche Pädagogik in Einrichtungen über Jahrzehnte das Klischee eines Angebots für Rabeneltern gehabt. Erst in den vergangenen Jahren ist deutlich geworden, wie nützlich es ist, dass Kinder schon im Vorschulalter gemeinsam etwas lernen und viele Anregungen erhalten."

Das bedeutet: Es geht um viel mehr als nur um satt, sauber und zufrieden. "Wir haben es bei den Erzieherinnen in den Kindertagesstätten längst nicht mehr mit ,Basteltanten\' zu tun!", sagt Ollendorf. Und damit geht es den Stendalern auch um eine Steigerung des Ansehens der Erziehung und frühkindlichen Bildung - völlig unabhängig davon, wie hoch der Anteil der Männer in den Kindereinrichtungen ist.

Wie vielfältig die Arbeit sein kann, bestätigt Evelin Rösch. Sie ist Leiterin der Tangerhütter Einrichtung, in der Philipp Hanke gemeinsam mit Kollegin Christine Kriesel seine eigene Gruppe leitet. "Ich bin froh, dass wir ihn jetzt hierhaben", gibt Rösch unumwunden zu. Denn mit ihrem neuen Mitarbeiter seien viele neue Impulse in die Einrichtung gekommen.

Beispielsweise bei den sportlichen Aktivitäten. Oder wenn er alte Gerätschaften mitbringt, um sie gemeinsam mit dem Tangerhütter Nachwuchs unter die Lupe zu nehmen. Eine alte Schreibmaschine war eines dieser Objekte. Die Kinder waren begeistert, laut klappernd ihre ersten eigenen Buchstaben aufs Papier zu bringen - selbst wenn längst noch nicht alle ihren eigenen Namen erkennen oder gar selbst schreiben können.

"Und einmal habe ich den Kotflügel eines VW-Käfers mitgebracht." Gemeinsam mit den Jungen und Mädchen hat der Tangerhütter Kindergärtner diesen ein wenig angeschliffen. "Die Kinder haben dabei entdeckt, dass eine alte Lackschicht mit einer anderen Farbe darunter ist und dass es auch eine Grundierung gibt", erzählt Philipp Hanke. Und davon, dass die Kinder bei diesem Kotflügel-Experiment gelernt hätten, was es mit dem Rost auf dem Autoblech auf sich hat.

Ein anderer von der Chefin gelobter Impuls ist die Musik. Zwar gehört die zum Kindertagesstätten-Standardprogramm. Aber dass die Kinder sich an einem Kinderschlagzeug selbst ausprobieren - das nicht unbedingt. "Da war richtig was los!", erinnert sich Evelin Rösch.

Kein Wunder also, dass sie Angst hatte, den jungen Tangerhütter nach dessen Ausbildung aus ihrem Kollektiv zu verlieren. "Ich würde es jedenfalls gut verstehen, wenn er sich in einer großen Stadt eine Stelle gesucht hätte." Die Möglichkeit hätte Hanke auf jeden Fall gehabt. In Berlin, wo er während der Ausbildung zum Erzieher ein Praktikum absolviert hat, gibt es Hunderte freier Stellen, im kommenden Jahr wird die 1000er-Marke überschritten. "Ich bin aber ein heimatverbundener Mensch. Ich lebe gern in Tangerhütte, und hier hat es mir gut gefallen", berichtet der begehrte Kindergärtner-Nachwuchs über sein Motiv, in der Altmark zu bleiben.

"Der Erzieher muss nicht automatisch für Fußball zuständig sein"

Sich als Mann für die Arbeit als Erzieher zu entscheiden, stand keineswegs von Anfang an fest. "Nach dem Abitur wollte ich auf Grundschul-Lehramt studieren." Dafür bekam er allerdings keinen Studienplatz und begann stattdessen ein Studium zum Berufsschullehrer. "Ich habe aber schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist", berichtet er. Und dann war es seine Großmutter Gisela Traufelder, die ihn auf die Idee gebracht hat. Mit dem Abitur in der Tasche, Erfahrungen aus Praktika im Kopf und der Zivildienstzeit im Lebenslauf konnte er gleich den Weg zum staatlich anerkannten Erzieher einschlagen. Schulabgänger aus Realschulen erlernen zunächst beispielsweise den Beruf des Kinderpflegers oder des Sozialassistenten, bevor sie zum staatlich anerkannten Erzieher werden können.

Mit seinem Abschluss hätte sich Philipp Hanke auch in anderen Bereichen der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren eine Stelle suchen können. Nun ist es doch der Kindergarten, "und das liegt daran, dass ich gemerkt habe: Mit den Kindern im Vorschulalter kann man richtig viel machen. Die Jungen und Mädchen lernen sehr schnell und sind aufgeschlossen", erzählt der Tangerhütter davon, warum er gern zum Exoten geworden ist.

Benjamin Ollendorf erkennt das Typische an diesem Weg: "Wenn Männer sich dafür entscheiden, in einer Kindertagesstätte als Erzieher zu arbeiten, hat das zum einen oft damit zu tun, dass sie während eines Praktikums genau dieses Aha-Erlebnis hatten." Zum anderen sei es die familiäre Vorbelastung: Wenn es in der Verwandtschaft Pädagogen gibt, stünden Männer solchen Berufen aufgeschlossener gegenüber. Das war auch in Philipp Hankes Familie nicht anders: Die Großmutter war Lehrerin, die Mutter ist Schulleiterin, der Vater leitet ein Internat. Ohne Zweifel fehlte in dieser Sammlung noch ein Kindergärtner.

Alles, was die Arbeit als Erzieher in Kindertagesstätten interessant macht, soll eine Imagekampagne und die Berufsorientierung an Sekundarschulen und Gymnasien vermitteln. Ollendorf: "Außerdem gibt es Quereinsteiger, die allerdings angesichts der langen Ausbildungsdauer und hoher Ansprüche an Praktika schwierig zu finden sind." Es sei aber wichtig, die Männer, die sich für den Beruf interessieren, nicht in Klischees zu drängen. "Ein Erzieher muss nicht automatisch für Fußball zuständig sein - nur weil er ein Mann ist", sagt er.

Bei allem Spaß am Beruf gehören aber auch ein stabiles Nervenkostüm und Ausdauer dazu. Das wird Hanke gerade an Tagen wie denen mit einem Drachenausflug klar: Wenn er dann seine Schützlinge mit der Gitarre in den Mittagsschlaf spielt, muss er aufpassen, nicht selbst wegzunicken.